Französische Literatur:Im Hirn seines Herzens

Marcel Proust verabscheute es, Briefe zu schreiben, und hat doch unzählige hinterlassen. Die zweibändige deutschsprachige Ausgabe seiner Korrespondenzen ist ein formidables Monstrum.

Von Michael Maar

Dafür, dass er Korrespondenzen hasste, hat er eine Menge Briefe geschrieben, einen sogar an einen Hund. Die damals noch dreimal pro Tag ausgelieferten Briefe waren für den asthmakranken Autor, der seine Matratzengruft im letzten Jahrzehnt nur noch selten verließ, die einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie waren aber kein Bestandteil des Werks, und das war, was er an ihnen hasste: Nichts sollte die Nachwelt ablenken von der "Suche nach der verlorenen Zeit", nichts sollte über ihn und sein Privatleben nach außen dringen.

Und genau das, was Marcel Proust befürchtete, dass man seine Briefe fleddern und publizieren würde, sobald er erst seinen Wohnsitz im Grab bezogen hätte - genau das geschah. Jeder Freund oder Bekannte wollte für einen Moment in die Sonne des Ruhmes treten, die inzwischen über ihm aufgegangen war, jeder gab Bändchen mit ausgewählten Briefen heraus oder verkaufte Autografen an Auktionshäuser. Proust-Briefe schwirrten in der Welt herum wie die Hogwarts-Einladungen für Harry Potter bei den verstörten Dursleys, bis sich ein amerikanischer Wissenschaftler, der in Paris Prousts Nichte kennengelernt hatte, entschloss, der "Correspondance de Marcel Proust" sein Lebenswerk zu widmen. Philip Kolb begann, das epistolarische Werk systematisch zu erfassen und gab von 1970 bis 1993 die kommentierten Proust-Briefe in insgesamt einundzwanzig Bänden heraus; der letzte Band erschien postum.

Proust war ein taktischer Briefeschreiber; er fasst ein Ziel ins Auge und schlängelt es an

Kolb wusste, dass er mit den abgedruckten Briefen nur einen kleinen Teil des Corpus hatte aufstöbern können, vielleicht ein Zehntel; aber 4500 Briefe waren besser als nichts. Im Jahr 2004 gab Françoise Leriche, eine Schülerin Kolbs, eine schmale kommentierte Auswahl dieser Correspondance heraus, an der sich der an der Sorbonne lehrende Philologe, Übersetzer und Proust-Experte Jürgen Ritte nun in seiner zweibändigen, ausnehmend schön gestalteten Ausgabe orientiert, die er aber klug erweitert und auf das deutsche Publikum abstimmt.

Französische Literatur: Was die Menschen lesen, hat Steve McCurry nie gefragt. Ihn fasziniert der Moment der Versenkung, wie ihn jener Zeitungsleser in Mumbai, Indien, erlebt.

Was die Menschen lesen, hat Steve McCurry nie gefragt. Ihn fasziniert der Moment der Versenkung, wie ihn jener Zeitungsleser in Mumbai, Indien, erlebt.

(Foto: Steve McCurry/Magnum Photos/Agentur Focus)

Mit Blick auf seinen Vorgänger Kolb spricht Ritte von der nicht endenden Mönchsarbeit des Kommentierens. Was Ritte selbst geleistet hat, muss man stupend nennen. Sein Kommentar ist ein Wunderwerk der Gelehrtheit und Akribie. Ritte entschlüsselt die entlegensten Anspielungen, kein Fädchen bleibt unverfolgt. Wenn eine Oper erwähnt wird, zählt er die Besetzung bis in die Nebenrollen auf und berichtet, wie viele Abende sie gespielt wurde. Im Anhang gibt er noch eine alphabetische Auflistung aller Adressaten mit biografischem Abriss, allein das eine monströse Fleißarbeit.

Seiner Akribie entkommt auch der Held dieses Epos nicht. Ritte lässt ihm keine der Übertreibungen durchgehen, zu denen Proust neigte. Nur einmal verteidigt er ihn gegen einen berühmten Kritiker: In Fragen des Stils, der Sprache, der Grammatik hatte Proust unfehlbar recht. Was dessen Privatleben betrifft, ist Ritte fast zu honorig diskret. Warum Proust ein Detektivbüro engagiert, um seinem aus Paris geflüchteten Sekretär Alfred Agostinelli nachzuspionieren, warum er dessen Vater zu bestechen versucht und ein NSA-ähnliches Überwachungsprogramm in Bewegung setzt, das sogar den Fürsten von Monaco involviert, wird nur verständlich, wenn man Agostinelli mit Albertine in Beziehung setzt, dem starknackigen Mädchen, dem Marcel verfällt und dem Proust den Band "Die Entflohene" widmen wird. Rittes Prinzip, für das Wichtige nur wenige Zeilen zu verwenden und für das weniger Wichtige viele, ist gut für die Kenner, aber für die Laien mitunter schwierig.

Aber sollen Laien das überhaupt alles lesen? Sie müssen es nicht. Doch entginge ihnen das Bild eines Charakters, der dann doch singulär ist in der Welt der Literatur. Prousts Register ist enorm, es gibt alle Tonlagen bei ihm. Es gibt einen großen Stoß ödipaler Briefe an die "chère petite maman", nach deren Tod er erst zum rücksichtslosen Schriftsteller wird und werden kann. Es gibt die klagenden Briefe an den Redakteur Jacques Rivière und den Verleger Gaston Gallimard, der sich in Proust den größten, aber auch schwierigsten Klienten ins Haus geholt hatte; eine ewige Litanei über Details des Drucks. Es gibt die Briefe an seinen Anlageberater Lionel Hauser, dem Proust berichtet, wie er schon wieder durch Fehlspekulation sein halbes Vermögen verloren hat - ägyptische Vorzugsobligationen, mexikanische Straßenbahnaktien und russische Papiere, deren Wert sofort wieder steigt, sobald er sie verkauft hat. Nicht zuletzt gibt es die albern-intimen und entzückenden Briefe an Bunibuls, seinen frühen Geliebten und lebenslangen Freund Reynaldo Hahn, in einem privatsprachlichen Idiom verfasst, dem die ansonsten tadellose Übersetzung kaum gerecht werden kann - tadellos, auch wenn man ein modisches "verortet" bei Proust so wenig lesen will wie ein "außen vor lassen", und auch wenn man die Übersetzung des Schnorrbriefs des sechzehnjährigen Marcel an seinen Großvater, in dem er ihn um 13 Francs für einen weiteren Bordellbesuch bittet, nachdem er beim ersten vor Aufregung versagt und zudem einen Topf (3 Francs) zerschlagen habe - auch wenn man die Übersetzung des dort einschlägigen Verbs "baiser" mit "beischlafen" als etwas zu keusch empfinden kann. Man denke sich Virginie Despentes' Skandalfilm "Baise-moi!" in dieser Übertragung - "Schlafe mir bei!"

Französische Literatur: Marcel Proust: Briefe 1879 - 1922. Zwei Bände. Herausgegeben, ausgewählt und kommentiert von Jürgen Ritte. Aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russe und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 1479 Seiten, 78 Euro.

Marcel Proust: Briefe 1879 - 1922. Zwei Bände. Herausgegeben, ausgewählt und kommentiert von Jürgen Ritte. Aus dem Französischen von Jürgen Ritte, Achim Russe und Bernd Schwibs. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 1479 Seiten, 78 Euro.

Viele, vielleicht die meisten seiner Briefe sind taktisch. Proust hat ein Ziel im Auge und schlängelt es an. Es gibt keinen größeren, geschickteren Schmeichler, manchmal auch Schleimer, der seine Hilfe mit der Entschuldigung anbietet, manchmal könne auch eine Ameise einem Löwen einen Dienst erweisen (wobei er zwei Fabeln La Fontaines vermischt, wie der Kommentar sanft korrigiert). Es gibt aber auch keinen einfühlsameren Kondolenzbriefschreiber, keinen raffinierteren Strategen im Literaturkampf, keinen gedächtnisstärkeren Leser, der alles aus dem Kopf zitiert, keinen rührenderen Freund, auch keinen bedachtsameren politischen Beurteiler, worauf zu Recht Wolf Lepenies hinwies.

Von 1909 an verschwindet er in seinem Werk. Der "Recherche" ordnet er nun alles andere unter

Zu Prousts Ruf als Snob passte es eben gerade nicht, dass er als einer der Ersten den Protest gegen die Dreyfus-Verurteilung unterschrieb, ja den Protest überhaupt organisierte; beim Adel machte ihm das so wenig Freunde wie in den nationalistisch aufgewühlten Zeiten später sein Unwille, die Deutschen "boches" zu nennen und unter Generalverdacht zu stellen. Hellsichtiger als viele andere Intellektuelle auch in Deutschland schreibt er schon Anfang August 1914 an Lionel Hauser: Obwohl er ungläubig sei, hoffe er, dass ein höchstes Wunder in letzter Sekunde das Auslösen der allesmordenden Maschine verhindere. "Aber ich frage mich, wie ein gläubiger Mensch, ein praktizierender Katholik wie der Kaiser Franz Joseph, der davon überzeugt ist, nach seinem baldigen Tod vor Gott zu erscheinen, es auf sich nehmen kann, ihm für Millionen Menschenleben Rechenschaft ablegen zu müssen, die nicht aufzuopfern in seiner Macht gestanden hätte."

Die Millionen hatten damals nicht viele vorhergesehen. Einer von ihnen war Arthur Schnitzler in Wien. Schnitzler und Proust, selten miteinander verglichen, sind sich verblüffend ähnlich in ihrer abgründigen, nichts sich schönredenden Psychologie und ihrem Sinn für die Flusen und Flausen der unwillkürlichen Erinnerung. Es wäre reizvoll, Schnitzlers deprimierte Tagebucheinträge und Prousts Briefe aus der Anfangszeit der grande guerre zusammen zu lesen, schon deshalb, weil auch Schnitzler unter dem aufflammenden Antisemitismus litt wie Proust, der seine jüdische Mutter auch gegenüber dem Dreyfus-feindlichen Adel nicht verleugnete - jedenfalls einmal nicht, dies nebenbei.

Leseprobe

Einen Auszug aus den Briefen stellt der Verlag hier zur Verfügung.

In einem Brief an ausgerechnet Lionel Hauser findet sich dann überraschend Prousts religiöses Bekenntnis. "Mich persönlich", schreibt er dem Freund, der ihm nicht nur Börsentipps gab, sondern nebenbei auch theosophische Traktate verfasste, "mich persönlich drängt das fortlaufende Studium der inneren Phänomene, das Hören auf unerklärliche Reminiszenzen zu der Annahme, dass unser gegenwärtiges Leben tatsächlich nicht das erste ist und dass der Schwamm des Vergessens die Erinnerungen an die vorherigen nicht vollständig getilgt hat."

Dieses Studium der inneren Phänomene war die eigentliche Aufgabe seiner, vielleicht jeder Literatur. Dichter werde man nur, sofern man tief hinabsteige "in das Herz seines Herzens oder vielmehr in das Hirn seines Herzens". Angekündigt hatte sich dieser Abstieg schon früh. Im Januar 1903 schreibt Proust dem Freund Antoine Bibesco, hundert Romanfiguren, tausend Ideen flehten ihn an, ihnen Gestalt zu geben, wie jene Schatten, die Odysseus darum bitten, ihnen ein wenig Blut zu trinken zu geben, um sie zum Leben zu erwecken. Er habe seinen Geist seiner Ruhe unterworfen, doch indem er dessen Ketten gelöst habe, im Glauben, einen Sklaven zu befreien, habe er sich einen Herrn geschaffen, "dessen Anforderungen ich körperlich nicht gewachsen bin und der mich töten wird, wenn ich ihm nicht widerstehe."

Im November 1909 gibt es einen Wendepunkt. Proust spürt, dass es seine Pflicht sei, jetzt alles dem Versuch unterzuordnen, sein Werk zu Ende zu bringen. Sein Leben, der schäbige Rest, wie es bei Arno Schmidt heißt, dient nur noch der Hervorbringung der "Recherche". Wie der chinesische Maler der Legende zieht Proust sich durch ein Pförtchen in das von ihm gemalte Bild zurück. Die Jünger winken ihm noch nach, bevor er in seinem Werk verschwindet. 1919 wird Proust mit dem Goncourt-Preis zur offiziellen Zelebrität. Den Anhauch des Weltruhms bekommt er in seiner Korkhöhle noch mit. In Deutschland schreibt Robert Curtius über ihn, in England studiert ihn Henry James. Mit seiner Gesundheit geht es rapide bergab. Nur einundfünfzig Jahre alt, stirbt er am 18. November 1922. Seinen Kampf hat er gewonnen. Er hinterlässt einen der größten Romane, die je geschrieben wurden.

Der Kommentar endet nach 1364 Seiten, ohne ein Wort über die Agonie des Helden - keine Girlanden, kein Lorbeer, nicht mal ein Blättchen. Der alphabetische Anhang endet mit "Zadig", dem nach einer Voltaire-Figur benannten Langhaardackel Reynaldo Hahns. Es sei nur ein Brief von Marcel Proust an Zadig erhalten. "Briefe von Zadig an Proust sind bis heute nicht aufgetaucht." Mit diesem eleganten Schlenker schließt ein zweibändiges Monument, das zu den formidabelsten Proustiana der letzten Jahrzehnte zählt.

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