Französische Literatur:Feinstaub der Beziehungen

Man steht irgendwo in der Landschaft, bis man nicht mehr da ist. Nach dem Frühlingsfest muss eine Leiche beseitig werden: Yasmina Reza geht nach "Babylon" und verfasst einen sarkastischen Kriminalroman.

Von Joseph Hanimann

Ich bin umstellt von lauter Glücklichen, siehst du? - sagte in Yasmina Rezas erstem Roman "Eine Verzweiflung" der Erzähler und erklärte seine wachsende Gleichgültigkeit gegenüber dem Glück mit der schleichenden Lebensmüdigkeit des Älterwerdens. Solche Figuren waren bei dieser Autorin bisher immer nur Solitäre, die aus den Mittelklasseneurosen und mittleren Lebenskrisen der Glückssucher emporragten. Wie diese letzteren mit den Angeboten der Gesellschaft - Mode, Konsum, Kosmetik, allerlei Ablenkung - der Abnutzung des Glücks zu entkommen suchen, ist ein Dauerthema in Yasmina Rezas Büchern.

Auch in diesem Roman sitzt, nachdem gerade ein Mord passiert ist, eine Frau unschlüssig in ihrem Badezimmer auf der Klobrille und studiert beim Überlegen, was nun zu tun sei, die Gratismuster der Anti-Aging-Gesichtsmaske Gwyneth Paltrow, die sie sich dann aufträgt. Sie knüpft aber keinerlei Hoffnung auf Wirkung an das Produkt. Anti-Aging: ein idiotischer Begriff, sagt sie sich. Denn wie den anderen ins Alter gekommenen Figuren dieses Buchs läuft die Zeit ihr nicht mehr davon. Ist der Zeitlauf für Vierzigjährige meistens stressig, wird er nach sechzig locker, kommt ins Schlingern, bleibt hängen, wie auf einem Foto, das man lange betrachtet.

Als es plötzlich schneit, läuft die Gesellschaft auf den Balkon, und plötzlich wird gelacht

Das eben tut Elisabeth, die Erzählerin im Roman. An einem regnerischen Tag hat sie zum ersten Mal nach vierzig Jahren wieder den Fotoband "The Americans" von Robert Frank aus dem Regal gezogen und schlägt ihn auf der Seite auf, die einen Mann zeigt mit abstehenden Ohren und der Zeitschrift "Awake" in der Hand vor einer Hauswand in Los Angeles. Das Foto stammt von 1955. Die Hauswand steht sicher immer noch dort, denkt Elisabeth, der Rest aber mitsamt dem Mann hat sich aufgelöst - doch was zählt das schon, wer man ist, was aus einem wird? "Man steht irgendwo in der Landschaft, bis zu dem Tage, an dem man nicht mehr da ist". So ein Stillstand der Zeit macht jedes Erzählen eigentlich unmöglich. Um aus der Abfolge platzender Zeitblasen in Schnappschüssen dennoch einen Roman entstehen zu lassen, muss man den kreisenden, hüpfenden, prickelnden Erzählstil Yasmina Rezas beherrschen. Erinnerung, Gegenwart, frei schwebende Gedankenassoziationen treiben durcheinander. Zusammengehalten werden sie nur durch das Ereignis eines Frühlingsfests unter Nachbarn, Arbeitskollegen und Freunden: eine seltsame Idee, die Elisabeth sich da plötzlich in den Kopf gesetzt hat.

YASMINA REZA (2010)

Anti-Aging: ein idiotischer Begriff, sagt sich die Heldin. Ihr läuft die Zeit nicht mehr davon: Yasmina Reza.

(Foto: Pascal Victor/ArtComArt)

Nie zuvor in all den Jahren, die sie mit ihrem Mann Pierre schon zusammenlebt, hatte sie so viele Leute in ihrer Wohnung versammelt. Das beschert ihr nun schlaflose Nächte wegen der Sorge, wie sie das alles hinkriegen soll. Der Romanautorin liefert es aber den Stoff für ihr Talent der brillanten Figuren- und Situationsschilderung. Schwer lastet beim Eintreffen der ersten Gäste die Verlegenheit über der Runde. Kein Gespräch kommt in Gang, während der Staudensellerie herumgereicht wird. Die Worte versiegen sofort, hinter jedem Satz lauert wieder die Stille, bis die Hausherrin nach einem beiläufigen Blick aus dem Fenster schreit: "Es schneit!" und die ganze Gesellschaft auf den Balkon stürzt. Es wird dann schließlich doch noch ganz lustig. Man lacht, für viele ist es wohl bald das letzte Lachen ihres Lebens, denkt die Hausherrin, "ein Lachen ohne Bosheit, ohne Koketterie, ein bisschen dämlich im Grunde, ein von nichts mehr bedrohtes Lachen, das nichts ahnt, nichts weiß". Schon gar nicht, dass am Ende des Abends das Geschehen durch einen schrägen Vorfall mit tödlichem Ausgang noch einmal richtig in Fahrt kommen wird.

Das Ereignis ist im Grund aber nur der Rahmen, an dem sich der existenzielle Feinstaub dieser Menschen festsetzt, vorab jener der Beziehung zwischen der Erzählerin Elisabeth und ihrem Nachbarn Jean-Lino von der Wohnung darüber. Elisabeth lebt eine Spur zu zufrieden mit ihrem Gatten, dem sie allenfalls seine allzu bedingungslose Liebe zu ihr vorwerfen könnte, die sie nicht mehr in Gefahr bringt. Funken zwischen ihnen sprühen schon lange nicht mehr. Jean-Lino Manoscrivi, ihren Nachbarn, einen Nachkommen jüdischer Einwanderer aus Italien, hat sie im Treppenhaus kennengelernt. Seither plaudern die beiden gern miteinander, wenn er vor dem Haus unten seine Chesterfield raucht. Sie sind sich einig, das Schlimmste im Leben haben sie hinter sich, und beim Lachen unter der Laterne hustet Jean-Lino sich mitunter die Lunge aus dem Leib.

So ist es logisch, dass in der Nacht nach dem Frühlingsfest, wenn das nicht mehr rückgängig zu Machende passiert ist und eine Leiche entfernt werden muss, die beiden zu Komplizen werden. Spätestens da wird aber auch deutlich, wie sehr Yasmina Reza letztlich doch eine Autorin der straff geschnürten Handlung ist. Erst hier bekommt der Roman wirklich Zug. Die freischwebenden Momente des Anfangs liegen der Französin weniger. Das Motiv der Fotos von Robert Frank bleibt unausgeschöpft. Die Kindheits- und Jugenderinnerungen Elisabeths ziehen sich in die Länge. Manche Details kommen offensichtlich direkt aus dem Notizblock der Autorin. Der Roman könnte fünfzig Seiten weniger haben, ohne etwas zu verlieren. Alles, was bei dieser Schriftstellerin nicht fest in die harte Situationsdramaturgie eingebunden ist, fliegt ihr davon.

Dort aber, wo die Anbindung stimmt, flattert selbst das Gravierende im Wind des unwiderstehlich Skurrilen. Einer der Gäste erzählt die Geschichte von seinem Sohn, der sich in Auschwitz schlecht aufgeführt habe. Wie das? Na ja, er hatte laut Schulleiterin im Reisebus von Krakau nach Birkenau den Kasper gegeben - und schon hat die Erzählerin wieder eines jener ihr albern vorkommenden Wörter des Zeitgeists vor sich. Gedenken, innere Einkehr, "das Wort kann mir gestohlen bleiben", sagt sie sich, genauso wie "Gedenkpflicht", "Trauerarbeit" oder sogar der Ausdruck "Toleranz", den ein anderer Gast des Abends als bloßes Synonym für "Indifferenz" abtut. Was allerdings nicht bedeutet, dass der unter diesen Wörtern liegende Ernst verschwände. Er tritt durch den Sarkasmus von Yasmina Rezas Figuren umso deutlicher hervor. Im Wort "Babylon" zum Beispiel aus dem Psalm über das Weinen um das ferne Zion, den Jean-Linos Vater nach dem Abendessen den Kindern immer wieder laut vorgelesen hatte, nicht aus Gläubigkeit, sondern aus einer kauzigen Anhänglichkeit gegenüber den alten Gebräuchen und letztlich auch aus Freude, bei der Gelegenheit einen gefüllten Karpfen zu verspeisen. Ein Flämmchen von Schalk steckt selbst in den traurigen Dingen und leuchtet auch im letzten Blickwechsel zwischen Elisabeth und Jean-Lino, bevor dieser von der Polizei abgeführt wird, noch einmal auf. Seine Lichtspur haben die beiden Übersetzer wiederum mit Geschick und Eleganz herübergebracht.

Yasmina Reza: Babylon. Roman. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Carl Hanser Verlag, München, 2017. 224 Seiten, 22 Euro. E-Book 16,99 Euro.

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