Frankreich:Zug um Zug

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Warum nehmen die Franzosen den Streik der Eisenbahner so gelassen hin? Weil der Lokführer eine heroische, patriotische, unwiderstehliche Figur der französischen Kunst ist.

Von Joseph Hanimann

Sie werden "Cheminots" genannt, das klingt vertraulich, fast zärtlich, ein wenig nach Kosenamen wie "Pierrot" und "Jacquot". Aber "Cheminot" erinnert auch an "boulot", den französischen Ausdruck für Knochenarbeit. Wenige andere Berufsgattungen wecken bei den Franzosen so vielfältige Assoziationen wie die "Cheminots", die französischen Eisenbahner. Und gerade wollen sie dem Land - wieder einmal - die sozialpolitische Marschrichtung aufzwingen: Sie streiken. Begonnen haben sie vor wenigen Tagen, geplant ist ein Ausstand, der bis zu drei Monate dauern kann. Für die Franzosen bedeutet dies, wie jeder Eisenbahnerstreik, ein Wechselbad der Gefühle.

Sie sind aufgebracht, müssen den Streikenden aber auch irgendwie Recht geben. Und dies hat nicht zuletzt mit den tiefen Spuren zu tun, die die Eisenbahn und die Eisenbahner in der französischen Literatur, in der Kunst und im Kino hinterlassen haben - eine Arbeiteraristokratie, heroisch, patriotisch, privilegiert. Der Eisenbahnbau schuf jene Achsen, die den Zentralstaat von der Nordsee bis zum Mittelmeer real zusammenfügten, mit Paris als wichtigstem Knotenpunkt und seinen Kopfbahnhöfen als eine Art Fürstenpaläste. Die Lokomotivführer, Heizer, Schaffner, Schienenleger, Bahnhofsvorsteher und Rangierarbeiter waren die Handwerker jener Operation. Bis heute beleben sie die Fantasie.

Es begann mit dem Pariser Ästheten Tiburce, der in Théophile Gautiers 1839 erschienener Erzählung "Das goldene Vlies" im Zug nach Antwerpen sitzt, um dort in Peter Paul Rubens' "Heiliger Magdalena" die Idealfrau zu suchen. Beim Beschleunigen der Fahrt fliehen die Pappeln links und rechts der Geleise "wie eine versprengte Armee". Der Zug wird aber nicht von einem "Stahlross", sondern von einem "Dampfross" gezogen. Über der dröhnenden, stampfenden Maschine zischt der Dampf und tupft weiße Wölkchen in den Himmel.

Auch in Claude Monets, Édouard Manets, Gustave Caillebottes Bildern vom Pariser Bahnhof Gare Saint-Lazare umhüllen Dampfwolken die Lokomotiven und deren rußverschmierte Lenker. Und doch hat das Eisenbahngewerbe in diesen Darstellungen mehr mit den impressionistischen Schleiern des Neuen und Leichten zu tun als mit dem Hämmern des Hephaistos.

Ähnliches gilt für Émile Zolas 1890 erschienenen Roman "La bête humaine", "Die Bestie Mensch". Zwar kracht es entsetzlich, wenn der Schnellzug Le Havre-Paris bei der Tunnelausfahrt in ein schweres Pferdegespann rast. Die eifersüchtige Tochter des Bahnwärters hat es auf die Geleise gelenkt, um dem Lokführer Jacques, ihrem ehemaligen Geliebten, und dessen Mätresse die Liebesnacht in Paris zu vereiteln. Doch war die "Lison", so der Name der Lokomotive, die Jacques mehr gehätschelt hat als die Frauen, nicht das zarteste und edelste aller Wesen? Jean Gabin legt jedenfalls in Jean Renoirs Verfilmung des Romans beim bloßen Berühren der Hebel und Kurbel und Räder seine derben Männerallüren ab und wird sanft wie ein Lamm.

Die neue Welterfahrung, die Wolfgang Schivelbusch in seiner "Geschichte der Eisenbahnreise" beschreibt, trägt in Frankreich zweifellos mehr prometheische Züge als anderswo. Ihr Weg konnte nur in eine hellere Zukunft führen. In seinem Roman "Reise in achtzig Tagen um die Welt" verwendete Jules Verne neben Luftschiffen auch Fantasiegebilde auf Schienen. In Alfred Jarrys Erzählung "Das Tausendmeilenrennen" wird auf der Strecke Paris-Irkutsk im Wettlauf zwischen einem Tross Radsportfahrer und einem Eisenbahnzug Professor William Elsons Erfindung eines "Perpetual-Motion-Food" ausprobiert. Dabei wirkt der offenbar führerlos fahrende Zug gespenstischer als jene in endloser Dunkelheit dahinrasenden Waggons in Friedrich Dürrenmatts Kurzgeschichte "Der Tunnel".

Die führerlose Lok ist ein Maschinenalptraum. Rettung verspricht nur der "cheminot"

Die Maschinentechnik wird für die Menschen erst richtig unheimlich, wenn kein menschliches Wesen mehr in der Kabine sitzt. Der Prototyp jenes steuernden Wesens ist aber eben der "Cheminot", dem man, wenn die Technik, die Wirtschaftsliberalisierung oder die Abschaffung des öffentlichen Diensts verrückt spielen, in seinem Widerstand allzu gern folgt, auch wenn es im Alltag nur Strapazen bringt.

Zum französischen Bild des Eisenbahners gehören weniger die deutsche Märklin-Idylle oder "Bahnwärter-Thiel"-Neurosen, sondern ein bisschen Trotz und Konflikt. Der aufs frühe 20. Jahrhundert zurückreichende "statut des cheminots", der den Bahnangestellten praktisch Unkündbarkeit, frühe Rente und ihren Familienangehörigen Gratisreisen gewährt, mag manchen Franzosen als ein überholtes Privileg vorkommen. Nicht wenige aber sehen in ihm eine Errungenschaft des Angestelltendaseins, die es im Interesse auch anderer Berufszweige zu verteidigen gilt.

Seit der erfolgreichen Streikwelle gegen die Reformpläne der damaligen Regierung Juppé im Herbst 1995 ist bei jedem Arbeitskonflikt vom "stellvertretenden Streik" die Rede. Dabei streikt das Personal mit dem gesicherten Status auch im Namen jener, für die ein solches Verhalten riskanter wäre.

Selbst große Staatsinstitutionen wie die französische Eisenbahngesellschaft SNCF führen aber leicht zum Verrat. Wird der öffentliche Dienst durch die Aufweichung der starren Regeln gerettet, wie die Betriebsleitung und die Regierung glauben, oder wird er dadurch zerstört, wie die Gewerkschaften meinen?

Für die Erörterung solcher Fragen hält die französische Literatur ebenfalls interessante Beispiele bereit. Paul Nizan veröffentlichte ein Jahr nach seinem Pamphlet "Die Wachhunde" gegen die intellektuelle Verbrämung des herrschenden bürgerlichen Gesellschaftssystems 1933 seinen Roman "Das Leben des Antoine B.". Die Titelfigur Antoine Bloyé, Sohn eines kleinen Eisenbahnangestellten und einer Putzfrau in einem verlorenen Winkel der Bretagne, will aus seinem Milieu ausbrechen und macht bei der Eisenbahngesellschaft Karriere. "Eines schönen Tages müssen diese Hinterwäldler doch von ihrer Scholle aufschauen", sagt er sich, "ihr vom Pflügen, Mähen und Dreschen verspannter Rücken löst sich, sie schnüren ihr Bündel und machen sich auf in die Städte, wo die Eisenbahngesellschaft Leute einstellt". In den späten Jahren des Second Empire, in denen der Roman beginnt, dringen die glänzenden Stahlbänder der Schienen durch Kiefernwälder und apfelbaumbestandene Täler immer tiefer ins französische Territorium vor.

Der industrielle Aufschwung der Nation und die soziale Aufstiegsambition Antoine Bloyés kommen in diesem Roman zusammen. Bloyé wird Werkmeister in einem Pariser Zugdepot und führt ein bürgerliches Leben. Die dafür nötigen Zugeständnisse an die Gesellschaft begreift er allerdings zusehends als Verrat an seiner Herkunft. Nach seiner Entlassung wegen eines Konstruktionsfehlers der für den Kriegseinsatz 1914 aufgebotenen Züge stirbt er mit der Obsession, dass ihn sein Sohn deswegen verachten wird. Als Adelsklasse der Arbeiter darf ein Eisenbahner sein Standesbewusstsein nicht aufgeben.

Eisenbahn-Filme feierten Frankreichs Widerstand gegen die Nazis

Er verkörpert in der Erinnerung der Franzosen aber auch noch mehr als bloßes Klassenbewusstsein. Er steht für politischen Heldenmut, wie sich einen Krieg später herausstellen sollte. René Cléments Film "La bataille du rail", "Die Schienenschlacht", von 1946 zeigt anderthalb Stunden lang Eisenbahnangestellte beim Umleiten von Zügen, Kaputtreparieren von Lokomotiven, Losschrauben der Geleise, Deponieren von Sprengstoff und anderen Sabotageakten gegen die hilflos fluchenden deutschen Besatzer. 1964 schickte der amerikanische Regisseur John Frankenheimer für "The Train", "Der Zug", Burt Lancaster als französischen Lokführer in den Kampf gegen die Wehrmacht, die Waggons voller französischer Kunstwerke abtransportieren wollen. Der ganze innere Widerstand Frankreichs gegen die Nazis wird in diesen Filmen gefeiert.

Wohl hat das heutige Dienstpersonal der TGV- und Vorortszüge mit jener Welt nicht mehr viel zu tun. Bemerkenswert ist aber die Nachsicht der Franzosen, wenn der Protest bei Arbeitskonflikten dort ansetzt, wo es die mobile Gesellschaft am meisten schmerzt: in der Verkehrsblockade. Wenn Lastwagenfahrer oder Bauern die Straßen blockieren, vergeht den Menschen schnell die Geduld. Bleiben aber die Züge im Depot, reicht das Verständnis dafür aus einer schon kaum mehr bewussten Erinnerung ziemlich weit. Vielleicht sogar bis zum Sommer.

© SZ vom 07.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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