Frankreich:Lauter kleine Gallier

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Im französischen Wahlkampf spielt die Kulturpolitik weder bei Rechten noch bei den Linken eine besonders große Rolle. Geteilter Enthusiasmus ist geteiltem Desinteresse gewichen. Das verspricht nichts Gutes.

Von Joseph Hanimann

Frankreichs Kulturpolitik ist schon lange keine leuchtende Vision mehr. Noch unter dem ersten Minister André Malraux verkam sie zu einer Sache der großen Worte, dann der rauschenden Feste unter Jack Lang, schließlich zur symbolischen Zahl - ein Prozent des Gesamtstaatshaushalts - und heute zu fast gar nichts mehr. In den Programmen der Konkurrenten für die Vorwahlen des rechten Lagers war Kultur ein Randkapitel, in ihren Reden tauchte sie praktisch nicht auf. Kein einziges Mal fiel das Wort in den beiden Fernsehdebatten. Das lässt einiges vorausahnen für Frankreichs Präsidentschaftswahlkampf im nächsten Jahr.

Kulturpolitik war nie ein Prestige-Thema der Rechten. Inzwischen ist sie es aber selbst für die Linke nicht mehr. Das Feilschen um das eine Prozent für die Kultur im Staatsetat ist in beiden Lagern seit Jahren nur ein Ersatz für Einfalls- und Freudlosigkeit. Gerade präsentierte die Kulturministerin Audrey Azoulay nach wiederholten Senkungen in den ersten Jahren der Ära Hollande für 2017 eine Erhöhung ihres Haushalts um 5,5 Prozent auf 3,6 Milliarden Euro. Damit wäre die Ein-Prozent-Schwelle überschritten. Doch die Ministerin wird dieses Budget nur noch in den ersten vier Monaten zu verantworten haben.

Noch vor zwanzig Jahren setzten sich Linke und Rechte bei den Liberalisierungsverhandlungen der sogenannten Uruguay-Runde des Handelsabkommens Gatt gemeinsam für die "kulturelle Ausnahme" ein. Doch dieser geteilte Enthusiasmus ist in geteiltes Desinteresse übergegangen. Übereinstimmung besteht darin, dass die Schaffung eines Kulturministeriums 1959 richtig war, ebenso aber, dass dieses Ministerium heute nicht mehr viel bedeutet. Nur wagt keiner, es abzuschaffen - so viel symbolische Kraft hat die Kultur gerade noch.

Seit dem Präsidenten Jacques Chirac ist Kultur in der französischen Politik keine Chefsache mehr. Die Einweihung des Museums für die Kulturen Europas und des Mittelmeerraums (Mucem) in Marseille war 2013 nach Jahren der Verzögerung die letzte große staatliche Museumseröffnung. Die Ausstrahlung französischer Größe wird fortan eher finanzstärkeren Kräften überlassen wie im Fall des Louvre-Projekts in Abu Dhabi. Im Land selbst ist man damit beschäftigt, mit der Diskrepanz zwischen Voluntarismus und Unvermögen fertig zu werden. Der stolzen Devise "Elitekunst für alle" des Theaterregisseurs Jean Vilar in den Pionierjahren des zentralstaatlichen Engagements steht heute die Realität gegenüber, dass mehr als die Hälfte der Franzosen keinerlei Umgang mit kulturellen Werken haben. Mehr noch: Die klassische Bedeutung von Kultur als Gefüge aus Erbe und Schaffenskraft schwindet. An ihre Stelle tritt die Auffassung, dass sich der Begriff "Kultur" als kollektive Identitätsnorm aus unantastbaren Umgangsformen und ewigen Werten festschreiben lasse. Mit den kommenden Präsidentschaftswahlen, so fürchtet die Zeitung Le Monde, werde sich dies noch verstärken.

Sucht man im Programm der beiden Finalisten der bürgerlichen Vorwahlen die Stellen, wo von Kultur die Rede ist, findet man zunächst eine stillschweigende Perspektivenverkehrung. Eine schlichte Voraussetzung wird zur Kernaussage umformuliert. Die Kultur sei ein "Sockel unserer Identität" und die "letzte Bastion gegen die Barbarei", heißt es beim konservativen Vorwahlsieger François Fillon. Sie leiste Abhilfe gegen den "Obskurantismus der Barbarei", hieß es wiederum beim liberaleren Alain Juppé. Fillon hatte im Sommer Empörung auf sich gezogen durch seine unglückliche Bemerkung, der Kolonialismus habe auch eine "geteilte Kultur" gebracht.

Mit Fillon als offiziellem konservativen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl ergibt sich für die Kulturpolitik nach zwei Legislaturperioden des Zauderns wieder die klassische Rollenverteilung zwischen links und rechts. Fillon hat bereits eine Sonderanstrengung von zwei Milliarden Euro für ein Zentralanliegen seiner Wähler in Aussicht gestellt: die Denkmalpflege.

Nun sollen die Schulen leisten, wofür früher die Kultur da war: die Einheit der Republik

Getragen werden soll das statt mit Staatsgeldern vermehrt durch Mäzenatentum, jene in Frankreich immer noch etwas fremde Finanzierungsform, die nach 2002 kurz auflebte und heute schon wieder erlahmt. Die Ein-Prozent-Schwelle des Staatshaushalts für die Kultur hat für Fillon keine Priorität mehr. Die Vereinbarungen zur Sozialversicherung für freie Schauspieler, Bühnentechniker und Musiker, die sogenannten "Intermittents", die nach jahrelangem Streit von der Regierung Valls gerade getroffen wurden, will der Präsidentschaftskandidat wieder infrage stellen.

Die linken Gegenkandidaten werden gegen dieses Klischee einer wertekonservativen und wirtschaftlich liberalen Auffassung ihre eigenen Stereotypen einer multikulturellen, innovations- und partizipationsorientierten Vorstellung in Stellung bringen - und Frankreich wird kulturpolitisch eine weitere Leerrunde drehen.

Die symbolische Einbindung in die Gemeinschaft der Republik, die früher von der Kultur erwartet wurde, ist heute abgewandert ins Soll-Programm der Schule. Von ihr soll in Frankreich fortan alle Rettung kommen. "Alles beginnt mit der Schule", heißt es im Programm Fillons, sie sei die "erste Stufe zur Einheit in der Republik". Neben der Rückbesinnung auf die Grundkompetenzen Lesen-Schreiben-Rechnen und der Wiederherstellung der Lehrerautorität kommt es ihm auf eine Renaissance dessen an, was er die "nationale Erzählung" nennt: die Fixierung des Unterrichts in den ersten Schuljahren auf die großen Figuren der französischen Geschichte und die französische Sprache.

Eine solche politische Indienstnahme der Vergangenheit weckt bei vielen Historikern ambivalente Erinnerungen an die patriotische Literatur von Maurice Barrès und seinen "Roman de l'énergie nationale", den Roman der nationalen Energie. Auch ist von da der Weg nicht mehr weit zur Forderung des ausgeschiedenen Kandidaten Sarkozy, dass alle Franzosen, woher sie auch kämen, sich gefälligst als Nachfahren des Galliers Vercingetorix fühlen sollten. Schul- und Kulturpolitik müssen zueinander wieder in komplementäre Beziehung treten, denn solange ein überholtes kulturpolitisches Konzept den alten Geschichtsmythen nicht neues Leben eingehaucht hat, blickt Frankreich nur in die Vergangenheit.

© SZ vom 30.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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