Frankfurter Buchmesse 2006:Indisches Tagebuch

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Aus diesem Anlass haben die sechs indischen Goethe-Institute zusammen mit den deutschen Literaturhäusern das Projekt ,,Akshar'' (,,Buchstabe'') ins Leben gerufen: Sieben indische und sieben deutsche Autoren besuchen für vier Wochen das jeweils andere Land, verfassen literarische Porträts, schrieben ein Tagebuch, bereiten gemeinsame Veranstaltungen auf der Buchmesse vor. In den vergangenen vier Wochen war der Frankfurter Schriftsteller Martin Mosebach zu Gast in Neu Delhi.

Martin Mosebach

Dreifacher Singh (1)

8. September: Ankunft in Delhi. Als ich 1990 zum ersten Mal hier ankam, war der Flughafen von einer riesigen Menschenmenge umgeben, magere, in Tücher gewickelte Männer starrten mit unbewegtem Blick auf die Reisenden, die verwirrt aus dem Gebäude herauskamen. Man sah schon die ersten heiligen Kühe, etwas entfernter ein erleuchtetes Zelt, in dem Priester oder Mönche sangen. Es war Winter, aber trotz der Kühle war die Luft stickig.

Diesmal treffen wir im September ein, nach dem Monsun, auch in der Nacht ist die Luft heiß und schwer, aber außer der Stickigkeit ist alles anders. Keine Kühe, keine Mönche, keine lauernde Menge mehr. Der Flughafen wird jetzt von Fraport verwaltet, seine Umgebung ist ,,aufgeräumt''. Die alte DDR-Sehnsucht nach ,,Weltniveau'' scheint auch in den nicht-sozialistischen Ländern des Ostens unbesiegbar.

Da bin ich dankbar für die dicke Luft, die als einziges, dafür aber mit großer Kraft, die Verheißung spürbar macht, dass man wirklich in einer anderen Weltgegend angelangt ist. Eigentlich ist die Vorstellung, am Entlüftungsschacht einer Untergrundbahn zu stehen, nicht angenehm - denn so riecht die Luft in Delhi -, aber die süßliche Rauchigkeit dieser Luft, ihre Substanzhaftigkeit, taucht den Ankömmling regelrecht unter, eine Initiation.

In unserer Wohnung neue Geruchswellen. Desinfektionssteine, die in Europa nur in den Schüsseln öffentlicher Toiletten liegen, sind über das Badezimmer und in den Schränken verteilt. Im Entrée empfängt uns ein Herz-Jesu-Bild, umgeben von Elefantenköpfen des Gottes Ganesha und der Reproduktion einer Hafenszene von Bonnard. Darüber ein Nofretete-Relief. Wussten wir nicht längst, dass das Generalthema unserer Zeit nicht ,,Clash of civilizations'', sondern ,,Cocktail of civilizations'' heißt? Gute Zutaten verlieren im Cocktail einfach nur ihre Qualität, es gibt natürlich auch explosive Cocktails.

9. September, morgens: Wie jeder weiß, heißen viele Inder Singh. Dabei ist Singh kein Name, sondern eine Art Titel oder Kastenmerkmal, aber so einfach ist es auch wiederum nicht. Unser Vermieter heißt D. Singh, er ist Sikh. Die Sikhs haben in ihrer Religionsgemeinschaft alle Kastenunterschiede abgeschafft, alle Männer, ob reich oder arm, führen als Zusatz zu ihrem Vornamen den Titel Singh, das heißt ,,Löwe'' oder ,,Prinz''.

Der zahnlose Diener unseres Vermieters heißt Goven Singh, ist aber kein Sikh, sondern Rajpute, er gehört der in Rajastan vorherrschenden Version der Kriegerkaste an, der auch die meisten indischen Fürsten angehören. Die meisten Leute, die Singh heißen, sind aber weder Sikhs, noch Rajputen, sie haben den Namen in den Kolonialzeiten, in denen westliche Standesamtsprinzipien eingeführt wurden, einfach angenommen.

Singh kann also heißen: Stolze Kastenlosigkeit im Sinne der Sikhs, Kastenstolz der Rajputen und soziale Usurpation durch einst Namenlose. Romanciers müssten sich doch angesichts solcher Differenzierungsmöglichkeiten in einem dauernden Glückszustand befinden.

Der Sicherheitsdolch / Am Straßenrand von Neu-Delhi (2)

9. September, abends. Im von Hunderten Glühlämpchen beleuchteten Garten von Herrn und Frau Dreyer, dem Leiter des Goethe-Instituts von Delhi, ein Empfang für indische ,,culturati''. Konversationssplitter: Ein Literaturwissenschaftler der Delhi Universität: ,,Ich bemerke mit Freude, dass das Indienbild in der deutschen Gegenwartsliteratur sich wandelt, es ist nicht mehr exotistisch. Es hat nicht mehr den ehrfurchtsvollen Ton der älteren Literatur, von Hesse ganz zu schweigen''. Seine Miene drückt bei Nennung des Namens Hesse höfliches Mitgefühl aus.

Der junge Herausgeber einer Literaturzeitschrift: ,,In Kalkutta werden die Dichter geehrt wie nirgendwo sonst auf der Welt. Als ein Busfahrer neulich feststellte, dass ein schwerbetrunkener Dichter im Bus war, fuhr er mit dem ganzen Bus durch alle engen Gassen, stieß gegen Balkons und riss Stromleitungen herunter, bis vor das Haus des Dichters, wo er ihn die Treppe hinauftrug und ins Bett brachte. Wo ein Dichter wohnt, ist in Kalkutta jedem selbstverständlich bekannt.''

10. September. Das Publikum in unserer Wohngegend scheint Gründe zur Besorgnis zu haben. Das Viertel - vor fünfzig Jahren auf einem Golfplatz gebaut - ist ringsum von Toren verschlossen, die von Wächtern bewacht werden, die Häuser haben etwas von Bunkern, die kleinen Fenster sind vergittert. Vor vielen Geschäften im nahen ,,Khan market'' stehen bewaffnete Wächter, sogar vor Buchhandlungen.

Vor der Bank steht ein Schild: ,,Niemand darf die Schalterhalle mit Gegenständen betreten, die als Waffen genutzt werden könnten; ausgenommen sind Sikhs, denen gestattet ist, ihren Dolch mitzunehmen, wofern er nicht länger als sechs Zoll lang ist.'' Der Dolch gehört wie der Kamm zur religiösen Ausstattung eines Sikh-Mannes. Die neue weltpolitische Lage hat offenbar die Entwicklung eines ,,security-kompatiblen Ritualdolches''erforderlich gemacht.

Am Rande des Lodi-Gartens eine vierspurige Autostraße, auf dem Mittelstreifen hohe Bäume mit buschigem Grün. Zu Füßen eines der Bäume, mitten im brausenden Verkehr, steht eine junge Frau in schmutzigem, rotem Sari mit mehreren kleinen Kindern. Alle schauen gespannt hinauf. In der Krone eines sehr hohen Baumes turnt, in der Höhe von mindestens fünfzehn Metern, ein junger Mann mit nackten Füßen. Er bricht dort oben trockene Äste ab und lässt sie hinabfallen.

Der Junge sammelt dort oben Feuerholz für die Familie, die unten aus den herabfallenden Zweigen ein Bündel schnürt. Als er sich den glatten Stamm, sehr gewandt, herabgleiten lässt, kommt ein frischgewaschener junger Mann seines Alters unter dem Baum vorbei, der in sein Mobiltelefon spricht. Das Gespräch wird vielleicht so viel kosten, wie das magere Bündel trockener Äste, für die der Kletterer sein Leben riskiert hat. Die Familie umsteht ihren Helden strahlend.

Die Vogelnester / In der Dr. Kiran Bedi-Welt (12)

21. September: ,,Slumming-Gehen'' nannten es die vergnügungssüchtigen Engländer der zwanziger Jahre, wenn sie neugierige Ausflüge in die Londoner Elendsviertel unternahmen. Hat es nicht auch etwas von solchem ,,slumming'', wenn wir nun eines der berüchtigtsten Armenviertel Delhis besuchen, ohne die Absicht, das Los seiner Bewohner zu erleichtern?

Wer Elendsquartiere sehen möchte, braucht sich doch eigentlich nicht zwei Stunden lang in einem kleinen Bus über schlechte Straßen in die Außenbezirke karren zu lassen. Elendshütten aus Bastmatten und Plastikplanen sind in der ganzen Stadt zu finden.

Selbst in einem gepflegten Wohnviertel muss man nur über eine Mauer gucken, um kleine Kolonien solcher Notbehausungen zu finden, in denen die Frauen in schmutzigem Wasser ihre Wäsche waschen, in denen Feuerchen brennen, im Freien Suppe gekocht wird und die gewaschenen Lumpen trocknen.

Die Siedlung Bawana, die wir heute besucht haben, ist aber kein ganz normaler Slum, sondern das Ergebnis einer Verwaltungsmaßnahme, deren Brutalität selbst für hiesige Verhältnisse außergewöhnlich zu sein scheint.

Am Ufer des Jamuna, in Pushta nahe von Alt-Delhi, war über mehrere Jahrzehnte hinweg ein wildes Stadtviertel entstanden, in dem in Hütten und primitiven Backsteinhäuschen hundertfünfzigtausend Menschen lebten: überwiegend Tagelöhner und Rikschafahrer, die ihr tägliches Auskommen in der Innenstadt von Delhi fanden.

So chaotisch der Anblick dieser Siedlung anmutete, so organisiert muss das Leben in diesem gewachsenen Slum gewesen sein: es gab Kindergärten, Schulen und einen Gesundheitsdienst, der die Armen kostenlos behandelte. Das war das Werk einer erstaunlichen Frau, der ranghöchsten Polizei-Offizierin Indiens, Dr. Kiran Bedi, die aus einer Hindu-Familie stammt. Sie hat die ,,Delhi-Police-Foundation'' gegründet, die versuchte, den Bewohnern dieses riesigen Quartiers zu helfen, ihre triste Lage eines Tages zu überwinden. Nach achtzehn Jahren Arbeit sollten diese Einrichtungen nun in die Selbstverwaltung der Bewohner übergehen.

Da entschied die Regierung, in einer blitzartigen Gewaltaktion den gesamten Slum abzureißen und seine Bewohner fünfunddreißig Kilometer vom Stadtinneren und ihren Arbeitsstätten entfernt auf freiem Feld auszusetzen. Das war vor zwei Jahren. Der Kreis um Kiran Bedi sieht in dieser beispiellosen Gewaltmaßnahme vor allem den Willen, die Wähler der ,,falschen Partei'' aus dem Wahlkreis herauszuschaffen.

In Bawana ist inzwischen aus dem Nichts eine Stadt von fünfzigtausend Einwohnern entstanden. Die ,,Delhi-Police-Foundation'' setzte unerschrocken ihre Arbeit im Chaos der Neugründung fort. Die Regierung hat für das neue Elendsviertel ein Schachbrettmuster als Grundriss bestimmt. Backsteingepflasterte Gassen werden von offenen Abwasserrinnen gesäumt.

Das Verblüffende: selbst in dieser äußersten Kümmerlichkeit gibt es Arme und ,,Reiche''. Mit nichts ist man dort angekommen und nun stehen groteske, balkongezierte Wohntürmchen neben Hütten, deren Inneres einen gestampften Erdboden hat.

Diese Hütten allein wären einer langen Betrachtung wert. Sie sind von der Vielgestaltigkeit von Vogelnestern. Alles erdenkliche zusammengetragene Abfallmaterial ist in sie hineingeflochten, gehämmert, gewoben. Aufgeschnittene Plastikflaschen, schwarze, löchrige Kunststoffplanen, zerfetzte Palmblättergeflechte, Bambus, Lumpen, ein Stück Wellblech formen Gehäuse, in denen die Menschen, von ein paar Hühnern umgackert, auf den geflochtenen Bauernbetten lagern. Vor der Haustür wird auf kleinen, aus Lehm geformten Öfen gekocht, und in solchen Hütten findet dann auch der Schulunterricht für die Kleinsten statt.

Ein bunter, schmutziger Haufen eifriger kleiner Kinder, die von ihrer Lehrerin zu musterhafter Disziplin angehalten werden. Das lateinische und das Hindi-Alphabet lässt die Lehrerin in langen, fröhlich klingenden Litaneien singen. Zu unseren Ehren sagt ein kleines Mädchen in feierlicher Starrheit schreiend ein Gedicht auf, dessen Refrain, ebenso laut schreiend, von allen mitgesungen wird. Die Lehrer und Lehrerinnen von Bawana sind einst selbst in dieselbe Schulen gegangen und geben ihr damals erworbenes Wissen nun weiter.

Wahre Güte / Kiran Bedi von Bawana (13)

23.September: Am Rande von Bawana, dieser vor zwei Jahren mit Hilfe einer gewaltsamen Umsiedlungsaktion entstandenen Stadt, erhebt sich ein großer, neuer, von den Einwohnern gestifteter Hindutempel, obwohl die meisten Bewohner Muslime sind. Der alte Brahmane - mit nacktem Oberkörper und langem, grauem Bart - führt uns durch die schlampig gekachelte Betonhalle zu den Schreinen, die jetzt mittags um zwölf Uhr sämtlich mit roten Vorhängen verschlossen sind. ,,Mittags kann man die Götter nicht sehen, dann schlafen sie'', sagt der Priester; die elegant gekleidete Mitarbeiterin der Foundation, die uns diese Worte übersetzt, lächelt ironisch.

Im Gebäude der Polizeidirektion des Bundesstaates, in der Kiran Bedi als Generaldirektorin einer Sektion residiert, empfängt sie uns in ihrem fensterlosen, holzgetäfelten Büro. Eine alterslose Frau im männlichen, weißen Kurta Pajama und kurzgeschnittenem Haar mit klarem, schönem Gesicht. Kiran Bedi bebt gleichsam vor Willenskraft und Intensität.

Ihre Stimme ist hart und ein wenig heiser vom vielen Sprechen. Bevor sie sich um den Slum von Pushta und später dann von Bawana kümmerte, hat sie eine große Reform der Gefängnisse angestoßen. Der Hölle des sinnlosen Wartens in dem mit dreizehntausend Häftlingen vielfach überfüllten Zentralgefängnis von Delhi, in dem manche Gefangene jahrelang in Untersuchungshaft sitzen, wollte sie ein Ende machen.

Ihr Einfall war unerhört einfach und praktisch. Warum das Gefängnis nicht als ein großes Kloster, einen Aschram, betrachten? Sie öffnete die Gefängnistore für Priester und Geistliche aller Religionen, für Meditations- und Yogalehrer, für Ärzte und Psychologen. Die Feste jeder Religion werden im Gefängnis von allen Häftlingen zusammen gefeiert. Sie sorgte auch dafür, dass die Häftlinge die Verbindung mit den Gemeinschaften, aus denen sie stammen, nicht verlieren und versuchte, für die aus ihren Familien Herausgerissenen neue Gemeinschaften zu gründen.

Bedi stammt aus wohlhabendem Haus. Sie vergöttert den Vater, der seine vier Töchter vorzüglich ausbilden ließ und ihnen den Geist von Verantwortung und Leistung mit auf den Weg gegeben habe. In manchen Jahren nahmen alle vier Bedi-Töchter als die ersten indischen Frauen an den wichtigsten nationalen Tennisturnieren teil. Die jüngere Schwester spielte sogar in Wimbledon. Bedis Karriere im konservativen Beamtenkörper, und ausgerechnet bei der Polizei war ohne Vorbild.

Wer sie erlebt hat, kann sich aber sofort vorstellen, dass diese Frau jeden Widerstand mit ihrer Souveränität, Festigkeit und Unbeeindruckbarkeit auf ihrem Weg beiseite gefegt hat. Wir mussten im Gespräch mit ihr an ein Wort von Marcel Proust denken: ,,Das sanftmutlose Antlitz der wahren Güte.'' Dabei lacht und lächelt sie gern. Natürlich könnte sie Gründe angeben für das, was sie tut. Aber wahrscheinlicher ist, dass sie über Gründe in Wirklichkeit niemals wirklich nachdenkt. Wenn sie eine Notlage sieht, muss sie handeln.

Besuch bei den Erleuchteten / Auf den Spuren Alexanders durchs indische Nationalmuseum (14)

24. September: Das Wetter ändert sich. Es kommt uns etwas weniger drückend vor. In den Bambusblättern vor unserem Fenster tanzten zwei riesige, schwarz-gelbe Schmetterlinge, wie wir sie als Kinder immer nur in Bestimmungsbücher und niemals in der Natur gesehen haben. Dann wird der Himmel schwarz, es blitzt und donnert und der Regen rauscht auf Palmen und Mangobäume und dieses Rauschen auf den ledrigen Blättern klingt, wie uns scheinen will, irgendwie vollsaftiger als in Europa.

Ein Tag um ins Museum zu gehen. Das Nationalmuseum liegt am Rajpath im Regierungsviertel, ein Bundsandsteinbau im modernistischen Klassizismus Speers oder Poelzigs. Das Erstaunlichste in diesem Museum sind für uns die Plastiken aus der Gandhara-Zeit, dem zweiten und dritten nachchristlichen Jahrhundert. Stimmt es, dass man immer nur das Eigene sehen will?

Dass man sich in der exotischen Kunst immer wieder als Europäer bestätigt sehen möchte? Solche Bestätigung gewährt die Gandhara-Kunst jedenfalls in reichem Maße. Gewiss, wir wussten, dass Alexander der Große am Indus hellenistische Königreiche hinterlassen hatte. Wir haben bei Plutarch seinen Triumphzug durch Indien, in dem er den indischen Triumphzug des Dionysos nachahmte, geschildert gefunden. Aber hielten wir diesen alexandrinischen Feldzug nicht letztlich für ein gescheitertes Abenteuer, wie Napoleons kriegerischen Ausflug nach Ägypten?

Jetzt sehen wir, welche künstlerischen Folgen dieser Expeditionszug noch vierhundert Jahre später hatte. Ungläubig betrachten wir Stuckreliefs und Stuckporträtköpfe, die aus Pompei stammen könnten. Mit Weinlaub gekrönte Bacchanten, Köpfe von skythischen Kriegern, die nach dem Vorbild hellenistischer ,,Gallier'' geschaffen zu sein scheinen, den Kopf eines bärtigen Mannes, der wie Marc Aurel aussieht, Puttenköpfchen und girlandentragende Eroten, wie von einem römischen Sarkophag.

Verblüffend ein Buddha aus schwarzem Basalt in Tunika und Toga und einem Gesicht, als habe ihn ein französischer Künstler aus der Zeit Napoleons des Dritten geschaffen. Ein femininer Buddhakopf sieht aus wie das Porträt eines römischen Mädchens aus gutem Hause. Buddhas wie Türkenkrieger mit Schnurrbärten. Am Eindruckvollsten eine leicht überlebensgroße Buddhastatue ohne Kopf aus rotem Sandstein.

Ein Athlet mit breitem Brustkorb, dessen Linien ein kleines Fettpolster abrundet; der Bauch wölbt sich leicht über dem einschneidenden, hauchdünnen Lendenschurz, unter dem sich das Geschlecht in herausfordernder Deutlichkeit abzeichnet. Man kennt etwas Ähnliches nur aus der griechischen Klassik, bei dem sizilianischen ,,Epheben von Mozia'' etwa. Der durchscheinende Stoff soll andeuten, dass der Erleuchtete durch die Materie hindurchstrahlt. Gewiss, aber man denkt auch an Rückerts Verse: ,,Hafis, wenn er redet Übersinnliches, / spricht er meistens über Sinnliches...''

,,Soweit war Indien also schon einmal,'' könnte der Kolonialist bei Betrachtung dieser Kunst sagen, und hat es wahrscheinlich auch gesagt. ,,Bevor es tausendsechshundert Jahre später von den Engländern ein zweites Mal hellenisiert werden musste.''

Ohne Aussicht / Das Reich des Vizekönigs (15)

Das Nationalmuseum in Delhi befindet sich in Sichtweite des gewaltigen Palastes für den englischen Vizekönig, das Werk des Neu-Delhi-Architekten Sir Edwin Lutyens - heute residiert der Präsident Indiens hier. Womöglich noch monumentalere Ministerienbauten des Architekten Baker geleiten als theatralische Propyläen das Auge zu dem vizeköniglichen Sitz hin.

Nur auf großen Druck konnten sich die Architekten entschließen, auf ihre rein klassizistischen Baukörper ein paar Rajputen-Türmchen zu setzen. Ihr Klassizismus erhob den Anspruch, nichts mit dem Historismus des neunzehnten Jahrhunderts gemein zu haben, sondern adäquater stilistischer Ausdruck eines modernen Großreiches zu sein.

Wie sieht der Raj Bhavan aus? Man stelle sich das Leipziger Völkerschlachtdenkmal auf das Münchner Haus der Kunst getürmt vor. Das Ganze in rotem Sandstein. Mausoleumsartig wirkt der Bau auf jeden Fall, und nicht zu Unrecht. Zu Northcothe Parkinsons amüsanten und immer zutreffenden Gesetzen gehört auch die Regel: Ein Reich pflege unterzugehen, wenn es architektonisch seine höchste Form verwirklicht habe. Im Raj Bhavan jedenfalls war der Putz noch nicht trocken, als der Palast von Lord Mountbatten an Nehru übergeben werden musste.

Die Ministerienbauten Bakers haben Säulenloggien, die wie einer Sofittenbühne eine Prunkgasse zu dem fernen Schloss bilden. Baker wusste, dass große Architektur meist nur wenige Fenster hat; ganz große - Parthenon und Pyramiden - hat gar keine Fenster. Blickt man von dem Kuppelpalast zu dem weit am Horizont auftauchenden Gate of India - Lutyens hat dem alten Triumphbogenmodell in seiner Monumentalität eine vorzügliche, neuartige Variante abgewonnen, der Bogen hat gigantische Steinmassen zu tragen - dann muss man an Englands Todfeind Napoleon denken. Ihm hat das sterbende britische Empire sich hier auf Gedeih und Verderb unterworfen.

Postscriptum zum Museum: In der Abteilung für Miniaturmalerei aus der Mogul-Zeit finden wir das briefmarkengroße Porträt des islamischen Kaisers Jahangir aus dem Jahr 1620. Er hält ein Barockbild der Jungfrau Maria in der Hand. Gerne hätten wir Ansichtskarten von diesem Bild an die Al-Azhar-Universität in Kairo und an den Vatikan geschickt. Aber diese Karte gab es leider nicht.

Reise ins Jenseits / Bei den Toten von Delhi (16)

26. September: Heute wollen wir das große Volk der Toten von Delhi besuchen. In der Nähe liegt ein christlicher Friedhof, mit klassizistischen Torhäuschen; davor werden flammende Gladiolengebinde verkauft.

Wir vermuten im Inneren die Gräber von Engländern, finden aber fast ausschließlich die von indischen Christen aller Konfessionen: Orthodoxe, Katholiken und Mitglieder der High Church. Seltsame Namen stehen auf den gleichförmigen grauen Steinplatten, indische, englische und portugiesische Elemente werden in ihnen zum Abzeichen einer neuen Kaste oder sogar Nationalität zusammengewunden.

Ein Blick über die Mauer offenbart einen jüdischen Friedhof, den seine Wärter schon wieder zu einem halben Bauernhof gemacht haben. Kinder und Hunde wuseln im hohen Gras zwischen den gleichmäßig nach Jerusalem ausgerichteten Marmorgräbern. Hier ist gewiss seit fünfzig Jahren niemand mehr begraben worden. Zwei indisch aussehende Männer mit Kippa haben das Grab eines Verwandten gefunden und jäten das Unkraut darauf aus.

Daraufhin Fahrt zum Nigambodh Ghat, einem der wichtigen Stätten der Leichenverbrennung am Fluss Jamuna, der einer der drei heiligen Flüsse Indiens ist - der zweite ist natürlich der Ganges, der dritte ist ein rein geistiger, unsichtbarer Fluss.

Während wir uns nähern, passieren wir die zum Fluss gelegene Seite des Roten Forts mit seinen herrlichen Mauern. Über ihnen erhebt sich der Marmorpavillon, in dem früher der Pfauenthron des Großmoguls stand. Man blickte von dort einst über die weiten Flussauen, die jetzt von chaotischen Straßen durchzogen sind.

Am Nigambodh Ghat hat das Verbrennen der Leichen schon am frühen Morgen begonnen. Unter großen Blechdächern sind je vier Verbrennungsstätten einzementiert, in denen nur noch Aschehaufen glimmen, während die Verwandten der Toten und die an der weißen Kurta-Pajama erkenntlichen Brahmanen die Totenopfer vorbereiten: Um jeden Aschenhaufen wird ein Kranz aus grünen Blättern gelegt, darauf werden gekochter Reis, Äpfel, Bananen, Blumen und Butterlichter angerichtet, während die im Schneidersitz hockenden Priester leise Gebete sprechen.

Es herrscht eine stille Geschäftigkeit. In großen Schüsseln wird die Asche ohne weitere Formen von den Söhnen ans Flussufer getragen. Die Leichenverbrennung ist eine Angelegenheit nur der Männer, einige Frauen warten weit entfernt von der eigentlichen Verbrennungsstätte.

Am Wasser nimmt ein schmutziger Junge in kurzen Hosen die Schüssel entgegen, watet mit ihr in den Fluss, lässt sie im undurchdringlich braunen Wasser ein Stückchen schwimmen und leert sie dann aus. Eine Weile sieht man die Ascheflocken noch in der langsamen Strömung treiben. Andere Hinterbliebene besteigen mit Priestern ein Boot und lassen sich etwas weiter hinausstaken, bevor sie die hellblauen Plastikeimer, die die Morgensonne aufglühen lässt, in das Flusswasser ausleeren.

Vom Verbrennen / Rituale der Toten (17)

27. September: Früher ist die andere Flußseite des Jamuna wohl ganz unbebaut gewesen, wie am Ganges in Benares auch heute noch, jetzt zeichnen sich in der Ferne schon allerlei häßliche Gebäude ab, aber in den Wiesen gegenüber liegt noch ein kleiner Tempel mit flatternder gelber Fahne, dessen Glocke über den Fluß herüberklingt und etwas von dem einstigen bukolischen Frieden ahnen läßt. Über die Eisenbahnbrücke gleiten beständig die Züge der neuen S-Bahn.

Eine mit weißem Tuch bedeckte Leiche, die mit Blumengirlanden geschmückt und auf eine Bambusleiter geschnürt ist, wird am Flußufer abgesetzt. Alle Männer der großen Trauergesellschaft tragen Holzscheite für den Scheiterhaufen herbei, darunter auch einige große Blöcke des kostbaren Sandelholzes. Die Leiche wird nackt auf einige Scheite gelegt und mit Ölen und Butterfett reichlich übergossen.

Dann bauen die Hinterbliebenen mit Ästen einen schönen, regelmäßigen Holzkegel um den Toten, eine regelrechte Hütte. Und dann wird mit Stroh das mit Ölen getränkte Holz in Brand gesetzt. Inzwischen machen sich Krähen und Hunde über die Totenopfer der Verbrennungsstätte her. Darüber fliegt ein Bussard mit einem Ast im Schnabel, als wolle auch er zum Scheiterhaufen etwas beitragen.

Dies Verbrennen ist ein großes Werk, an dem alle beteiligt sind. Vielleicht trägt diese Vielzahl der Verrichtungen dazu bei, daß die einzelnen Trauergesellschaften nicht niedergeschlagen wirken. Man verfolgt die Vorgänge gesammelt und ernsthaft. Balsame und Sandelholz geben dem Rauch eine schwere Süße, die aber nicht unangenehm ist.

Wer die Holzsammler in Delhi gesehen hat, denkt allerdings unwillkürlich auch daran, wie aufwendig ein solcher Holzhaufen für eine arme Familie sein muß. Wir erfahren, daß solch eine Verbrennung, wie sie die Riten der Religion vorschreiben, für viele eine große Sorge darstellt. Man erzählt uns von Menschen, die sich davor fürchten zu sterben, weil ihre Verbrennung die Familie in Schulden stürzen wird.

In einem Gespräch mit einem jungen Mann brahmanischer Herkunft fragen wir, ob auch die vielen ganz und gar verlassenen Menschen, die irgendwo am Straßenrand sterben, ein solches Totenritual erhalten. Er wisse nicht, was mit solchen Menschen geschehe, sagt er ausweichend. Verbrannt würden sie jedenfalls nicht. Man schaffe sie irgendwie beiseite.

Ein junger Schuhputzer prüft die Farbe unserer Schuhe und mischt dann aus sechs verschiedenen Flaschen eine Schuhcreme, die präzise den Farbton des Leders trifft.

Panischer Vogel / Die Stimmen der Sänger (3)

11. September: Sonntags zur Sacred Heart Kathedrale in die Messe. Die margarinefarbene Neubarock-Kirche mit vielen riesigen Ventilatoren, die eine eigentümlich aufgeregte Festlichkeit erzeugen. Der Priester trägt ein dünnes, goldenes Messgewand, das aussieht, als sei es aus ADAC-Rettungsfolie. In Fortführung eines Hindubrauches legen einige Gläubige ihre Hände auf die Füße der Gipsstatue des Hl. Franz Xaver. Die Kirchenmusik mit Synthesizer und einfältigen Soft-Pop-Songs, dröhnend.

Danach zum gegenübergelegenen Sikh-Tempel. Wir betreten ihn durch die Hintertür, einen großen, schmutzigen Hof, in dem in riesenhaften Kesseln auf prasselnden Flammen gelber Linsenbrei, Reis und süße Tempelspeise aus Milch, Butter und Zucker gekocht wird. In langen Reihen sitzen die Gläubigen auf dem Boden und werden von Blechtellern gespeist.

Im heiligen Bezirk zieht man die Schuhe aus, die Männer, die nicht ohnehin den Sikh-Turban tragen, binden sich goldbrokatene Taschentücher um den Kopf. Ein riesiger Marmorbezirk tut sich auf mit einem großen, heiligen Teich, in dem das rituelle Bad genommen wird und den man im Uhrzeigersinn unter Marmorarkaden umschreitet.

Hier lagern ganze Familien mit geschminkten Säuglingen und sehen den Vätern beim Ausziehen zu. Im Tempel, unter goldenen Kuppeln, in dem das Heilige Buch des Religionsstifters unter einem Baldachin aufbewahrt wird, stellen sich die Gläubigen zur Proskynese in langen Reihen auf. Sänger mit großen, blauen Turbanen singen zu einer Art Bratschenmusik, wilde, entfernt an irische Volkslieder erinnernde Gesänge. Man lärmt nicht, nur ein Murmeln liegt über der Menge.

Abends zu einem Baithak, einem feierlichen Konzert, das ein Musikmäzen für seine Freunde veranstaltet. Man betritt den Saal barfuß und sitzt auf dem Boden in runde Polster gelehnt. Ein solches Konzert findet ein Ende nur dann, wenn der Sänger nicht mehr kann, aber dieses Ziel ist erst nach vielen Stunden erreicht. Ein klassischer Baithak sollte eigentlich die ganze Nacht dauern.

Diese improvisierte Musik ist in einer langen Reihe von Meistern bis zur Gegenwart weitergegeben worden, ohne aufgeschrieben zu werden. Man zählt die Meister-Lehrer eines solchen Sängers auf, wie bei uns nur die Klavierlehrerkette, die zu Liszt und Chopin führt.

Der Sänger oder die Sängerin sitzen als vollendete Kunstfiguren inmitten des kleinen Orchesters, mit ihren tänzerischen Handbewegungen gleichen sie tönenden Götterbildern. Der jugendliche Pushkar Lele ist Enkelschüler eines der berühmtesten Gurus. Seine Stimme ist nicht groß, aber seine Technik stupend. Es gelingt ihm, die Stimme gleichsam vor dem geöffneten Mund pendeln zu lassen, dann wieder lässt er sie wie einen panischen Vogel flattern.

Er schmachtet, kokettiert und wird während des stundenlangen Gesangs immer blässer, als rinne das Blut aus ihm heraus. Das elegante, ältere Publikum, das den traditionellen Kleidungsstil sehr raffiniert mit neuen Farbzusammenstellungen verbindet, schüttelt bei den langen Koloraturen andächtig den Kopf. Auf der Straße draußen schlafen auf dem Boden verkrüppelte Bettler, deren rollstuhlartige Fahrzeuge neben ihnen stehen.

Wildes Schäumen / Musikalische Erfahrungen (4)

13.September: Die Unbekümmertheit, in der man sich in diesem sehr schamhaften Volk seiner Bedürfnisse am Straßenrand entledigt, scheint die Autoritäten neuerdings zu stören. So werden in Neu Delhi jetzt überall Bedürfnisanstalten gebaut. Die Ziegelsteine sind bröckelig, von schöner roter Farbe und haben, wie ein Kuchen oder ein Stück Butter, eine tiefe Einprägung, das Monogramm des Fabrikanten und die Swastika.

In der Sanskriti-School, einem Gymnasium für Beamtenkinder, wird heute einer der berühmtesten Geiger Südindiens, der ehemalige Arzt Dr. Subramaniam, eine Kostprobe seiner Kunst geben. Das Botschaftsviertel ist eine Art Wüste, in der sich die Botschaften wie Ausstellungspaläste auf einem unfertigen Messegelände erheben.

Die Schule ist von für deutsche Verhältnisse unvorstellbarem Luxus - mit Gärten und Schwimmbecken, Wasserspielen und einer Aula, die sehr gut als das Gießener Opernhaus durchgehen könnte. Schüler und Schülerinnen in gelb-weiß-karierten Hemden. Formelle Begrüßung am Eingangstor, kunstvolle religiöse Blütendekorationen. Ein strammer Chorus der Schüler: ,,Good morning, Sir''.

Subramaniam spielt auf einer Geige, die glänzt, als sei sie von braunem Zucker. Er und sein kleines Orchester, zwei Trommler und ein Mann mit Maultrommel sind leider an dicke Verstärker angeschlossen. Klassische Musik und Mikrofon scheinen in diesem Land unverbrüchlich verschwistert zu sein.

Subramaniam, ein kleiner, zarter Mann, dessen Kopf von fein gekräuseltem Haar auratisch umgeben ist, erklärt gewisse Prinzipien karnatischer Musik, die noch entwickelter und komplizierter zu sein scheinen als die der nordindischen Musik, die wir bisher gehört haben. Auch hier steht aber ,,Rheingoldrauschen'' am Anfang, um sich dann zu dionysischem Brausen zu steigern, einem prachtvoll, organisierten Tumult, furiosem Stillstehen der Musik, das etwas von dem wilden Schäumen zu Füßen eines Wasserfalls hat.

Zum Schluss die Nationalhymne, in großem Ernst gesungen, die Jungen haben die Hände an der Hosennaht. Ein sanftes, inniges, melodisch ,,indisierendes'' Lied, Text von Rabindranath Tagore, der in Deutschland seinerzeit der ,,Gangeshofer'' genannt wurde. Wir hören, manchen sei diese Hymne zu britisch. Ohne den Text zu kennen, können wir uns das bei Tagores immensem Erfolg in Europa durchaus vorstellen.

Nachmittags, mit unguten Vorahnungen, für ein Radiointerview in ein Rundfunkstudio. Kaum ist der Schriftsteller in Delhi, soll er schon sagen, wie er es dort findet. Das Studio in einer typischen Delhi-Neureichenvilla: Neobarock mit bronziert-verspiegelten Riesenglasscheiben. Die freundliche Redakteurin stellt mir die Frage: ,,Wie würden Sie einem Deutschen in wenigen Worten Indien beschreiben?'' Daraufhin erleide ich einen intellektuellen Kollaps und stammele nur noch sinnloses Zeug.

Der Bambuskorb / Wohnen und Leben (5)

14. September: Ein häufiges Bild: Hinter dem Mann auf dem Motorroller sitzt seine Frau im ,,Damensitz'' mit flatterndem Sari und wehendem Schleier wie eine entführte Prinzessin auf dem Ross des Ritters.

Fahrt nach Gurgaon: In eine kleine, altmodische Privatklinik zum Impfen. Im Behandlungszimmer ,,Santa Claus''-Dekorationen. Die Schwestern mit kleinen, röhrenförmigen Zelluloidhäubchen. Auf der anderen Straßenseite erhebt sich ein gigantisches Hochhausviertel voller architektonischer Fieberphantasien, kindischer Buntheit und billiger Bizarrerien. Riesige Wohnblocks, die sich irgendwie am Hotel Plaza in Manhattan orientieren, mit zehntausend winzigen Barockbalkons.

Hier befinden sich auch die uns allen wohlbekannten Call-Center. Jetzt wissen wir endlich, wo das Telefon klingelt, wenn wir zu Hause die Deutsche Bank anrufen. Wenn man Gurgaon sieht, scheint das neue Indien schon sehr nah, trotz der vielen, im Schatten der Hochhäuser wartenden, lumpigen Fahrradrikschas. Wenn sich hier die Zukunft dieses Landes verkörpern sollte, müsste Indien sie freilich selbst vor allen anderen fürchten. Liegt Asiens zukünftiges Glück in einer einzigen, sich von Kairo nach Schanghai erstreckenden, nur durch Sandsturmwüsten und Überschwemmungsgebiete unterbrochenen Shopping-Mall?

So grausig die neuen Häuser, so schön sind sie, während sie gebaut werden. Die Gerüste, die den Neubau eines Geschäftshauses umgeben, sehen aus, als sei die Epoche des industriellen Bauens noch nicht angebrochen. Lange, durchgebogene Bambusstangen werden mit dicken Seilen verschnürt.

Es entsteht ein filigranes, kunstvolles Gebilde, als solle um das Haus ein Korb geflochten werden. Man glaubt sich auf der Werft der Arche Noah oder auf der Baustelle des Turms von Babel. Würden die Gerüste doch niemals abgebaut! Hier kann man den arabischen Phoenix endlich einmal sehen, von dem uns so lange gepredigt worden ist: Wie die Schönheit aus der Funktion entsteht. Frauen in bunten Saris tragen Hohlblocksteine in Bastkörben auf dem Kopf herbei.

Delhi ist ein Boden für Stadtgründungen. Die Stadt ist in ihrer Geschichte acht Mal neu gegründet worden, das Zentrum lag immer an etwas anderem Ort, so dass das Stadtgebiet jetzt riesenhaft ist. Gurgaon mag man ruhig als neunte Gründung zählen. Die achte war das britische Neu-Delhi. Die Engländer machten hier, was sie zu Hause niemals hätten tun können und was ihrer ästhetischen und politischen Geschichte überhaupt nicht entspricht. Sie nahmen sich für die Stadt den Schlosspark von Versailles als Vorbild.

Man stelle sich eine Stadt vor, deren schnurgerade, von Rondells sternförmig ausgehende Straßen statt von Häuserzeilen von Bäumen und Büschen begrenzt werden. Die palladianischen, weißen Säulenbungalows sind in die Boskette versteckt worden. Die Idee von Neu-Delhi ist die gänzlich vom Grün verschluckte Stadt. Das Prinzip des französischen, auf den Königspalast hin zentrierten Parks verbindet sich hier mit Frank Lloyd Wrights Plänen vom Eigenheim mit soviel Grundstück, dass der Nachbar nicht gesehen werden kann.

Wer sich in das Machtzentrum des Subkontinents begibt, kann stundenlang in einem Wald umherirren. Es ist halt schwer, eine Stadt zu gründen. Vielleicht würde es sich für Stadtplaner lohnen, einmal genau zu studieren, wie ein Slum wächst, denn der Slum ist vermutlich das letzte organische, urbane Gebilde unserer Epoche.

Nizamuddins Grab / Fächer und Fliegenwolken (6)

15. September: Das Reservat, in dem wir wohnen, grenzt an den Golfclub von Delhi, der auf einem alten muslimischen Gräberfeld angelegt ist. Die Ruinen der Kuppelmausoleen sind in den Golfplatz einbezogen. Eine schöne Anregung auch für Deutschland. Wenn sich, wie man hört, die Tendenz, die Leichen zu verbrennen und die Asche zu verstreuen noch weiter verstärkt, könnte man für unsere malerischen Hauptfriedhöfe bald eine großartige, neue Verwendung haben.

Ihren architektonischen Höhepunkt erreichen diese Gräber in der Grabanlage des Moguls Humayun, die in ihrer Gepflegtheit und Kostbarkeit aus dem Zusammenhang der Stadt vollständig entrückt zu sein scheint. Nicht weit davon aber findet man ein, wenn das Attribut erlaubt ist, höchst ,,lebendiges'' Grab.

Nur einen Schritt über die Straße und es beginnt das überfüllte Nizamuddin-Viertel. Hier liegen die Gräber des Sufi-Heiligen Nizamuddin, des großen Dichters Khusrau und einer Tochter des Moguls Schah Jahan. Es ist schwer beim Sprechen über dies Nizamuddin-Grab, einen der Hauptorte schiitischer Heiligenverehrung, nicht in zügellosen Beschreibungsrausch zu verfallen.

Wie wir uns bei den Saucen und Ragouts, die uns serviert werden, oft hilflos fragen, welche Gewürze und Bestandteile sie enthalten, so vergeblich wäre der Versuch alle Reize, die die Sinne in diesem Grabbezirk geradezu überschwemmen, auch nur annähernd zu rekonstruieren.

Am Anfang ein Farbphänomen: die enge Gasse vor dem Grab ist ganz angefüllt von Männern in weißen langen Hemden und Hosen und mit weißen, gehäkelten Käppchen, die zu dem Grab drängen. Ist man aber erst einmal in das Innere der Höfe gelangt, wird das Weiß ganz an den Rand gedrängt und eine Farbfülle der Saris tut sich auf, deren Vielfalt unerschöpflich ist. Wo waren die Frauen vorher?

Die Sufi-Heiligen werden hier verehrt, indem die Gläubigen Berge von Rosenblättern, Süßigkeiten und Päckchen mit Räucherstäbchen über den Sarkophagen ausschütten. Viele Verkaufsstände halten diese dick duftenden Opfergaben bereit. Die Grabgebäude und die Moschee im Hof sollen aus alter Zeit stammen, sind mit neuen bunten Lackfarben aber ebenso überkrustet, wie die Heiligengräber mit immer weiteren Schichten von Brokattüchern überdeckt werden.

In einer offenen Säulenhalle lagern die geistlichen Wächter des Heiligtums, blütenweiß gekleidet, mit gekämmten Bärten, misstrauische, herablassende Blicke auf die Menge werfend. Auf glänzend-weißem Marmorboden sitzen Frauen und Kinder von Fliegen umkrabbelt. Englisch scheint gerade unter den jungen Leuten niemand mehr zu sprechen.

Allgegenwärtig sind verwachsene Bettler. Wenn sie große Fächer schwingen, steigen Fliegenwolken auf. Von den Abfällen der Hammelmetzgereien außerhalb der Grabanlage angezogen, kreisen Schwärme von Raubvögeln über dem Heiligtum. Sie kommen so nah, dass wir nun endlich erkennen: es sind keine Adler, sondern Bussarde.

Das Grab von Nizamuddin gehört zu den Orten, deren ästhetische Dichte durch kein modernes Element aus der Plastikwelt aus dem Gleichgewicht gebracht werden könnte. In dem Fenster des ruinenhaften Wohnhauses, das an die Hofmauer stößt, geht, beim Sinken der Sonne, eine Neonröhre in einem blaugemalten Zimmer an, ein großes Auge, das auf den Hof hinabblickt.

Dort beginnen nach dem Abendgebet die ,,Quawwali''-Gesänge, vorgetragen von einem vor dem Grab hockenden Männerchor, der von Harmoniumakkorden begleitet wird, schwärmerische Huldigungen in langen Strophen für die großen, gottgesandten Toten. Als wir den Hof verlassen, steht uns ein Ziegenbock im Weg, der aus einem Sack Grünzeug frisst, über ihm hängt ein vom Metzger zerlegter, blutiger Ziegenkörper.

Der Riesentempel / Im sterilen Marmorgebirge (7)

16.September: Im Badezimmer steht neben der alten, noch aus spätbritischen Zeiten stammenden Badewanne mit mächtigen Armaturen ein niedriger Schemel, darauf ein Eimer und ein Litermaß aus Plastik. Wir erfahren, dass die Benutzung einer Badewanne hier mit unangenehmen Vorstellungen verbunden ist: in seinem eigenen Dreck zu liegen! Ein kultivierter Inder füllt den Eimer mit Wasser, setzt sich auf den Schemel und übergießt sich mit Hilfe des Schöpfmaßes. Danach schwimmt das ganze Badezimmer.

Wir fahren zum nagelneuen Akshardan-Tempel. Auf unseren Besuchen der verschiedenen Kultstätten in Delhi haben wir uns daran gewöhnt, die unwillkürlichen Regungen deutscher Hygienevorstellungen beiseitezuschieben, zu unserem Heil gewiss, denn in Ekel und Ansteckungsängsten steckt bekanntlich ein beträchtliches neurotisches Potenzial.

Der Akshardan-Tempel, mit offensichtlich unbegrenzten Mitteln von reichen Auslandsindern am Jamuna-Ufer errichtet und soeben erst eingeweiht, ist hingegen ein in diese Stadt hineinoperiertes Reservat von klinischer Sterilität.

Auf den endlosen Flächen hochglanzpolierten Marmors darf sich niemand niederlassen, anders als sonst in den Tempeln, in denen überall Familien lagern. Ganze Marmor- und Sandsteingebirge sind für den Akshardan-Tempel abgetragen und mit computergesteuerten Sägen termitenhaft ornamental zerfressen worden: Horror vacui in Riesenformat.

,,Unsauber Gekleidete'' haben nach den Schrifttafeln keinen Zutritt, damit vermutlich die Hälfte der Bevölkerung Delhis. Es scheint, man pflege hier einen Reformhinduismus, der weniger auf die Verehrung der Götter als auf ,,indische Werte'' abzielen will. Der Riesenkuppeldom ist umgeben von Schrifttafeln mit Aussprüchen von Isaac Newton, Franklin D. Roosevelt, Helen Keller, Voltaire, Einstein und Darwin. Wir bekennen, vom Hinduismus nichts zu verstehen, aber diese ,,Religion der großen Männer'' ist uns wohlbekannt.

Nachdem die muslimischen Herrscher die alten Tempel Delhis zerstört haben, ist ein Bedürfnis nach Wiedererrichtung großer prunkvoller Tempel durchaus verständlich. Wir gestehen uns beim Verlassen des imposanten Komplexes freilich ein, dass uns die mit Qualm, Ruß und einer gewissen Schmuddeligkeit verbundene Religion die nähere ist.

Unheiliger Zorn

Inseln der Missverständnisse: Dschieses, der Papst und die Welt der Kühe (8)

17. September: Ein grauer, sonnenloser Tag, die Hitze und die Feuchtigkeit steigen weiter. Im Dahinschmelzen erleben wir aber auch ein Dahinsinken unserer Widerstandskräfte und verbinden uns stärker mit unserer Umgebung.

Die Fahrer der in Delhi ,,Tuk-Tuk'' genannten Motorradrikschas legen in yoga-geübter Beweglichkeit den linken Fuß auf den Fahrersitz, während der rechte die Bremse bedient. Sie sitzen in ihrer Magerkeit in derselben Haltung wie die dionysisch-üppigen Götter auf den Tempelreliefs, die im Sitzen zu tanzen scheinen.

Am Sonntagmorgen zur St.-Thomas-Church im Süden von Neu-Delhi. Wir wollen dem englischen Gottesdienst entkommen. Zu den unabtragbaren Hypotheken des Englischen gehört, den Namen Jesu ,,Dschieses'' auszusprechen. Die syro-malabarischen Christen, die der Tradition nach vom Apostel Thomas das Evangelium empfangen haben, sind vor allem in Madras und Kerala zu Hause und in Delhi im Ausland.

Auch ihr eigentlich uralter Kult ist stark modernisiert, aber immerhin sieht der Priester in seinen prächtigen, orthodoxen Gewändern beim Zelebrieren nicht der Gemeinde ins Gesicht. Auch hier dröhnende Musik, aber nicht so kindisch wie in der englischen Kathedrale, man möchte den dramatischen Stil eher indo-neapolitanisch nennen.

Wir haben der Zeitung entnommen, dass in der großen Moschee, Jama Mashid, erregt gegen den Papst gepredigt worden ist. Die Times of India glaubt, dass der ,,Zorn auf den Papst Indien versenge''. Es half dem Papst nicht, dass er nur den von einem kriegerischen Islam schwer bedrängten Kaiser Manuel zitiert hatte und dies Zitat alsbald relativierte. Ein Schriftsteller hätte ihn warnen können: Selbst in Deutschland tun sich gebildete Leser schwer, den Autor eines Romans und die Meinungen seiner Figuren auseinanderzuhalten.

Gestern las ich in der Delhi-Universität vor Deutschstudenten ein Kapitel meines jüngsten Romans, in dem ein Deutscher, der zum ersten Mal nach Indien reist, bei seiner Ankunft auf dem Flughafen eine heilige Kuh sieht. Eine Hörerin sagte gereizt: ,,Warum schreiben Sie über solche Sachen, über heilige Kühe? Die Kühe sind mir egal - die Welt dieser Kühe, das sind nicht wir.''

Meinem Versuch, ihr zu erklären, ich hätte nicht einen Essay über die Situation der Kuh im modernen Indien schreiben, sondern die Gedanken einer Romanfigur, eines Deutschen schildern wollen, der sich im Zustand äußerster Beeindruckbarkeit befindet, lauscht sie mit Misstrauen. Zum Glück habe ich sie nicht gefragt, ob sie Muslimin sei. Ich erfahre später, dass im aufgeklärten Milieu der Universität versucht wird, jede Unterscheidung zwischen Hindus und Muslimen zu vermeiden.

Nachts wird es immer heißer. Die Taxifahrer, deren alte, gelb-schwarz lackierte Ambassador-Limousinen in der Nähe unseres Hauses parken, haben am Straßenrand einen kleinen Hanuman-Schrein errichtet, den sie mit frischen Blumengirlanden schmücken und vor dem ein Flämmchen brennt. Die Fahrer haben ihre bäuerlichen, geflochtenen Bettgestelle auf den Bürgersteig gestellt und schlafen dort im Freien. Auf einer Verkehrsinsel, nicht weit davon, liegen ausgemergelte Männer auf einem Stück Pappe und schlafen mitten zwischen den vorbeibrausenden Autos. An ihnen vorbei zieht ein Zug hochgewachsener Air-India-Stewards mit Rollkoffern dem Fünf-Sterne-Hotel entgegen.

Unterm Kirchturm / Delhis religiöse Architektur(9)

18. September: Für die Betrachtung eines anderen Landes in einem anderen Kulturkreis bedarf es der Bereitschaft, sich in eine andere Art Mensch zu sein einzufühlen. Aber das gilt nicht bei Betrachtung großer Kunst, die über die Jahrhunderte und über die kulturellen Distanzen hinweg unmittelbar zu uns spricht. Qutb Minar, das Minarett der ersten Moschee Delhis aus dem späten zwölften Jahrhundert, ist ein solches Kunstwerk. Dieser hohe, schon von weitem sichtbare Turm erhebt sich in einem Ruinengelände.

Der in rotem Sandstein aufgeführte Turm läuft konisch zu wie ein Fabrikschornstein, vier prachtvolle Balkone laufen in den einzelnen Stockwerken um ihn herum. Man kann seine Silhouette auch mit der eines zusammenschiebbaren Fernrohrs vergleichen. Sein Körper scheint aus aneinandergelehnten, runden und eckigen Stäben zu bestehen. Gemeißelte Spruchbänder in kufischer Kalligrafie geben dem Turm dann aber auch wieder den Charakter einer übergroßen Schriftrolle.

Eine uns überraschende Empfindung im exotischen Indien: Wann immer wir auf architektonische Meisterwerke der Mogulzeit stoßen, überkommen uns geradezu heimatliche Empfindungen. Wir empfinden diese Architektur im indischen Kontext schon beinahe als etwas Westliches. Könnte Qutb Minar nicht der Kirchturm der Kathedrale von Albi sein?

Die inzwischen der ganzen Welt bekannte Frage des Kaisers Manuel Paläologos, was Mohammed der Welt denn Neues gebracht habe, könnte beim Anblick von Qutb Minar die Antwort erhalten: ,,Auf jeden Fall große Architektur''. Ist Schönheit nicht auch ein wichtiges religiöses Argument?

Das Gelände bewahrt freilich auch das Zeugnis ebenso großer Brutalität. Die Wandelhallen dieser ersten Moschee werden von kostbar skulptierten Pfeilern aus siebenundzwanzig zerstörten Hindu-, Jain- und Buddhatempeln getragen.

Auf der Suche nach authentischen Stätten der Hindu-Religion sind wir in dem monströsen Akshardan-Tempel noch nicht richtig glücklich geworden. Deshalb betreten wir nun Birla Mandir in Neu-Delhi, einen, wie man uns sagt, populären großen Tempel, den der Milliardär Birla, einer der finanziellen Unterstützer der Unabhängigkeitsbewegung, 1938 stiftete.

Er weihte ihn in schöner Offenheit der Verehrung der Göttin Lakshmi, die nach dem Glauben des Volkes vor allem für den Reichtum zuständig ist. Birla ließ seinen Tempel nicht aus dem kostbaren Buntsandstein, sondern aus bunt verputztem Backstein bauen. Die Shikaras, die gerundeten Tempeltürme gleichen im Umriss Art-déco-Hochhäusern in New York.

Die große Tempelhalle im ,,orientalistischen Stil'' der Lobby eines Zwanziger-Jahre-Hotels in Schanghai. Die Götterstatuen in den Schreinen sehen aus wie wunderschöne alte Schaufensterpuppen in prachtvollen neuen Kostümen, deren Seide noch zeigt, wie sie im Paket gefaltet war. Aus Lautsprechern tönen leise Gesänge, wie in französischen Kathedralen neuerdings ein diskretes ,,Halleluja'' die Besichtigungen untermalt. In den Arkaden um den Tempel wird auf Englisch beschrifteten Marmortafeln Reformtheologie betrieben: ,,Brahma ist die Form des Erschaffenden, Vishnu die Form des Erhaltenden, Shiva die Form des Zerstörenden''.

Im Bauch von Delhi / Auf dem Mondscheinbasar(10)

19. September: Lesung im Goethe-Institut vor einer fortgeschrittenen Klasse mit vorzüglich deutschsprechenden Schülerinnen, ein paar Männer sind auch dabei. Ein Mädchen fragt mich, ob ich in Indien seit meinem ersten Aufenthalt vor sechzehn Jahren Veränderungen festgestellt hätte.

Ich fühle, was sie erwartet: Sie möchte gern eine Bestätigung dafür hören, dass Fortschritt und wirtschaftliche Entwicklung vorangekommen seien. Ich muss ihr bekennen, daß mir am meisten die großen Geier fehlen, die bei meinem ersten Aufenthalt noch in Scharen auf den Bäumen hockten und die inzwischen alle eingegangen sind: offenbar an einem Medikament, das man den Kühen gegeben hat, deren Aas sie fraßen. Der Tod der Geier ist geradezu eine Parabel für die Wirkung hilfreich gemeinten menschlichen Eingreifens in natürliche Prozesse.

Natürlich ist nicht zu leugnen, dass der Verkehr in Delhi jetzt von einer Flut gleichförmiger Mittelklassewagen verstopft wird. Gewiss gibt es heute auch mehr chinesische, thailändische, vietnamesische und italienische Restaurants. Um das Wohl und Wehe der Elektronikingenieure, die angeblich den gegenwärtigen, wirtschaftlichen Aufschwung Indiens bewirken, habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gekümmert, und gewiss sind diese immens tüchtigen Ingenieure nicht der Grund, warum ich nach Delhi gereist bin.

Bei aller Veränderung gibt es jedoch auch mächtige Beharrungskräfte in dieser Stadt und wahrscheinlich erst recht im ganzen Land und ich bekenne, dass mich vor allem diese Kräfte interessieren, und so will ich mich denn der Tatsache vieler herrlicher Call-Centers in Delhi nicht verschließen und mache mich dennoch lieber auf den Weg nach Alt-Delhi in das Straßengewirr des ,,Mondscheinbasars'', des Chandni Chowk, und in die Gassen von Shahjahanabad - so wird das Viertel rund um die große Moschee genannt.

Wie schmutzig und heruntergekommen dieses Viertel auch sein mag, es gehört zu den ermutigendsten und erfreulichsten Erlebnissen, die man in Delhi haben kann, den Irrgarten dieser Gassen stundenlang zu durchstreifen. Kein Mensch schreibt, was für einen großen Bestand prachtvoller alter Wohnhäuser mit herrlichen Steinportalen und Innenhöfen mit Arkaden und umlaufenden Balkons Delhi immer noch besitzt. Wir hören, daß eine Reihe alter Familien ihre Paläste in Alt-Delhi noch unterhalten, wenn auch das Parterre meist vollgestopft ist mit schäbigen Läden.

Gemäuer, die vom Einsturz gefährdet zu sein scheinen und doch von Leben bersten. Jedes Haus ist eine kleine Manufaktur, überall sitzen Familien in düsteren Gelassen bei irgendeinem Handwerk. Wir vermuten, dass man alle Handwerkzeuge, die in Diderots großer Enzyklopädie abgebildet sind, hier noch in Verwendung finden kann. Die Gassen sind überfüllt von Motorrädern, Rikschas und Lastträgern, überall Garküchen, die Schmalzgebackenes anbieten, an jeder Straßenecke Büglerinnen und Bügler, die ihr riesiges Schneiderbügeleisen mit glühender Holzkohle füllen.

Im eigentlichen Basar dann wieder Anhäufungen des Wahnsinns. Wer wird die Millionen elektronischen Kitschuhren aus allen boomenden Industriezentren Asiens kaufen? Welcher Gaurisankar an Plastikmüll steht hinter den Erfolgszahlen aufsteigender Volkswirtschaften?

Heute ist Dienstag, Ehrentag des Affengenerals Hanuman, der Rama in dessen Kämpfen zu Hilfe kam und deshalb vergöttlicht wurde. Der heilige Affe ist als Diener des strahlenden Helden der geborene Protektor jener Menschen, die gleichfalls dienen, ohne deshalb einen Rama als Herrn zu haben. Der Hanuman-Tempel in der Nähe von Connaught Place ist auf chaotische Weise weder alt noch neu, bunt und rührend.

Die Gläubigen stehen in langer Reihe im Tempelbezirk an, um ihre Opferschalen voller roter Rosen und klebriger Kuchen vor dem Altar der Götter darzubringen. Im Heiligtum nehmen die Priester schimpfend und herausfordernd nachlässig, wie Fischhändler kurz vor Schließung des Marktes, die Opfergaben entgegen, aber das hindert viele Gläubige nicht, im Gedränge in versunkener Andacht dazustehen und zu beten. Die Opfer sind die gleichen, die den islamischen Sufi-Heiligen dargebracht werden, so stark hat die religiöse Praxis der Eroberten auf die Eroberer gewirkt.

Radelnder Baum / In der Rikscha durch Delhi (11)

20.9.06 Mittwoch: Zu den schönsten Indienklischees gehörte früher eine bullige Ambassador-Limousine - das Chassis gleicht einem frühen Mercedes-Modell, aber der Motor ist so konstruiert, dass jeder Dorfschmied den Wagen mit dem Hammer reparieren kann - und dazu ein Sikh-Chaffeur mit großem Turban und schwarzem Bart. Das Bezeichnende an Indien-Klischees ist, dass alle zutreffen.

Auf einer Fahrt in bewusstem Ambassador erzählt der athletische Sikh von dem Massaker nach der Ermordung Indira Gandhis durch ihre beiden Sikh-Leibwächter. Damals wurden über 2000 Sikhs in Delhi umgebracht. Sikhs seien starke Männer, sagt der Fahrer. Um einen Sikh zu töten brauche es fünfzig Hindus, für vier Sikhs dementsprechend zweihundert. In diesem Moment knallt es wie ein Pistolenschuss. Der Vorderreifen ist geplatzt. Das Profil war so glatt wie eine Säuglingswange.

Das schönste Fahrzeug Delhis ist die Fahrradrikscha. Die Rikschafahrer erscheinen uns wie ein eigenes Volk, kleine Männer mit dem Becken eines Zwölfjährigen, mit dunkler Haut und struppigem Haar. Der Sattel ihres Fahrrads ist dessen unnötigstes Teil. Die Rikschafahrer treten die Pedale im Stehen, sie werfen stets ihr ganzes geringes Körpergewicht in die Pedale. Das Sitzbänkchen für den Fahrgast ist kaum mehr als eine Stange.

Das ganze Gefährt erscheint fragil. Auch wenn wir Rikschas gesehen haben, in denen sich ganze Familien von solch einem Kerl haben nach Hause fahren lassen, gestehen wir ein gewisses Unbehagen, als großes rosiges Schwein dieses zerbrechliche Gefährt zu besteigen. Aber das Erlebnis einer Rikschafahrt ist zu verführerisch. Dies geräuschlose Über-der-Menge-Schweben wie eine große Gipsfigur, die während einer Prozession herumgetragen wird, hat eine verzauberte Leichtigkeit, die mit keiner Fortbewegungsart zu vergleichen ist, ein Durch-die-Luft-Gleiten, wie auf einer Schiene.

Es ist aber auch erregendes Schauspiel, wie eine Rikscha sich im Gewühl zwischen Bussen, Motorrädern, hochüberladenen Lasttaxis und Tieren behauptet und, indem sie dem Fahrgast das Gefühl eines wankenden Fluges vermittelt, ihr Ziel erreicht.

Dort erwartet uns ein junger Student, der politisch und sozial engagiert ist und ein Gespräch mit unserem Rikschafahrer beginnt: ,,Wie alt bist du?'' - ,,Dreißig.'' - ,,Wieviele Kinder hast du?'' - ,,Acht.'' - ,,Du bist verrückt, wie willst du acht Kinder großziehen?'' Der Rikschafahrer lächelt stolz und sagt: ,,Ich bin wie ein Baum. Ich wachse, ich blühe, und ich trage Früchte.''

Ausflug an die Stadtgrenze zur Tempelstadt Chattarpur. Der Anblick der Tempelstadt mit fünf großen Tempeln unterschiedlichster Form ist nur mit dem eines Pariser Weltausstellungsgeländes aus den Jahrzehnten der Belle Epoque zu vergleichen. Proto-surrealistischer Orientalismus. Die Götterbilder sind glänzende Messing- und Silberstatuen mit Glasaugen, in bunten Seidenornaten und mit dicken schwarzen Menschenhaarperücken.

Ein Brahmane malt mit Pinsel und Lackdose die Hälse der Menschenköpfe, die die Göttin Kali abgeschlagen hat, frisch blutig an. Ein Priester unter silbernem Baldachin singt mit schöner Greisenstimme lange Passagen aus den heiligen Texten. Die rotgestrichene Kolossalstatue des Affengenerals Hanuman gleicht mit ihrer Prachtmuskulatur einer ins Monumentale gesteigerten ,,Oscar''-Statuette. Das rauchig-rosige Abendlicht von Delhi gießt seine unwiderstehliche Stimmung über dies Ensemble in gleicher Fülle aus wie über die edelste Architektur.

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