Frankfurter Buchmesse 2016:Flandern liegt am Bosporus

Die Zukunft Europas und der Türkei war das große außenpolitische Thema der Buchmesse, die Zukunft der Verlage das innenpolitische. Eine Bilanz.

Von Christopher Schmidt

Das Wort, das du weglässt, ist das Geschoss, dem du entgehst", hatte der Schriftsteller Igor Pomerantsev auf einem Podium mit Jurij Andruchowytsch über die literarische Landschaft der Ukraine gesagt. Der Krieg mit Russland habe sich bis in die Lexik hinein ausgewirkt. Schriftsteller verzichten nach seiner Beobachtung neuerdings auf jedes überflüssige Adjektiv. Die Verben seien jetzt wichtiger. Die ukrainische Literatur dieser Tage will möglichst direkt sein, beweglich und reaktionsschnell.

Die Frankfurter Buchmesse ist bekanntlich nicht gerade ein Ort, an dem Worte weggelassen werden. Hier bewegt man sich im akustischen Trommelfeuer der Selbstdarstellung. Messe ist eben auch Markt. Am Büchertisch, wo die Neuerscheinungen der Gastländer Flandern und Niederlande ausliegen, steht der wunderbar offenherzige Satz: "Wir sind käuflich." Hier, im Pavillon des Ehrengastes, spricht der Schriftsteller Arnon Grünberg über Literatur als Mimikry. Wenn er noch länger an seinem aktuellen Roman "Muttermale" gearbeitet hätte, wäre binnen Jahresfrist seine vollständige Verwandlung in die eigene Mutter abgeschlossen gewesen, sagt er.

Draußen im Lesezelt ist Wolf Biermann die vollständige Verwandlung in sich selbst bereits gelungen. Munter poltert er durch seine Lebenslegende, und man weiß gar nicht, welche Schlange länger ist: die vor Biermanns Signiertisch oder die vor den "lekker Frietjes" am belgischen Pommes-Frites-Stand, den vielleicht besten Botschaftern ihres Landes.

Ihr treibt die Türkei immer weiter in den Osten, in den Orient, warf Can Dündar der EU-Politik vor

Abgesehen von Elfriede Jelinek, die sich wegen ihres 70. Geburtstags entschuldigen ließ, waren, wenn wir richtig gezählt haben, mal wieder alle da, von Martin Schulz bis Mario Barth, von Miroslav Nemec bis zu den beiden Königen von holländischen und belgischen Royals. Und nicht zuletzt war der in der Türkei zu sechs Jahren Haft verurteilte Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, da. Wie es mit der Türkei im Besonderen und mit Europa im Allgemeinen weitergeht, das war das beherrschende Thema der diesjährigen Buchmesse.

Frankfurter Buchmesse

Die Messe findet auch im Freien statt, zwischen den Hallen ist sie "Agora" und "Open Stage", auch für den Länderschwerpunkt.

(Foto: Regina Schmeken)

Statt den Flüchtlingen einen sicheren und legalen Weg nach Europa zu ebnen, habe die Europäische Union es sich Milliarden kosten lassen, die Türkei als "watch dog" einzusetzen, sagte der Präsident des deutschen Pen-Zentrums, Josef Haslinger. Europa habe seine Werte kurzfristigen Interessen geopfert, als es sich auf einen Deal mit Erdoğan einließ, um die Balkanroute zu schließen. Von Werte-Verrat sprach auch Can Dündar, und zwar von einem zweifachen. Erst habe man die Reformbereitschaft in seinem Land abgewürgt, indem der EU-Beitritt der Türkei 2005 in Frage gestellt wurde. Mit dem Flüchtlingspakt dann habe Europa seine Seele verkauft. "Ihr verliert die Türkei", sagte Dündar und fasst die Situation in folgendes Bild: Es sei ein Tauziehen auf der Bosporus-Brücke. Doch anstatt die Türkei zu sich zu ziehen, auf die europäische, westliche Seite, die Seite der säkularen Zivilgesellschaft, treibe die Europäische Gemeinschaft die Türkei weiter nach Osten, in den Orient.

Doch wie sicher ist sich die Europäische Union, die als Friedensprojekt nach den Weltkriegen entstand, überhaupt selbst ihrer Werte? Unter der Überschrift "Mehr Europa, aber anders als bisher", diskutierten der belgische Schriftsteller Stefan Hertmanns und sein französischer Kollege Mathias Énard sowie Ivana Sajko aus Kroatien. Die ewige Frage nach der europäischen Identität hält Stefan Hertmans für neurotisch. Gerade Offenheit mache die Identität Europas aus. "Integrationskraft ist Europas größte Stärke", so Hertmans. Diese Offenheit und Fähigkeit zu "transitorischer Identität" müsse es sich bewahren, anstatt sich von Populisten vor sich her treiben zu lassen, die bewusst Identitätsangst schürten.

Tatsächlich Grund zu einer Identitätsangst hat momentan die Verwertungsgesellschaft Wort. Nach einer Phase der Schockstarre, die auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, Buchverlage künftig nicht mehr pauschal an den Einnahmen aus der Zweitverwertung von Druckwerken zu beteiligen, folgte, hat die VG Wort mittlerweile reagiert. Sie, die diese Gelder eintreibt und treuhänderisch verwaltet, hat den Verlagen eine Frist bis zum 30. November gesetzt. Bis dahin müssen sie ihren Anteil an den Tantiemen der vergangenen drei Jahre zurückzahlen.

Buchmesse

Die Summe, um die es geht, beläuft sich auf 100 Millionen Euro. Der Sachbuch-Verleger Christoph Links bricht das bei einer von mehreren Gesprächsrunden zum Thema herunter auf seinen Verlag. 50 000 Euro müsse er nun binnen vier Wochen an die VG Wort überweisen, Geld, das er nicht habe. Anders als bei Konzernverlagen seien bei einem kleinen Verlag wie seinem die Gewinnmargen zu gering, um Rückstellungen zu bilden. Man operiere ohnehin stets am "Liquiditätsanschlag".

46 Prozent der deutschen Verlage haben deshalb bereits interne Kürzungen angekündigt. Die Risikobereitschaft sinke und damit auch der verlegerische Spaß, sagt Florian Simon vom Verlag Duncker & Humblot. "Der Strauß wird kleiner und weniger bunt." Und das gilt nicht nur für die Programme, sondern auch für die Verlage selbst, denn manche werden den Ausfall ihrer Einkünfte aus den Ausschüttungen der VG Wort nicht überleben. Zwischen den Sprechern der VG-Wort, Verlegern und einer Mehrheit der Autoren herrscht große Einigkeit, für den Erhalt der VG Wort in ihrer bisherigen Form zu kämpfen und den Gesetzgeber aufzufordern, hierfür die rechtlichen Voraussetzung zu schaffen. Zum einen, um zu verhindern, dass die Verlage den finanziellen Druck einfach an ihre Autoren weitergeben. Zum anderen aber, weil es für Autoren erheblich schwieriger werden dürfte, ihre Vergütungsansprüche gegenüber den Herstellern von Kopierern, Handys und Tablets, durchzusetzen. Ohne die Marktmacht der Verlage an ihrer Seite wäre das ein Kampf David gegen Goliath.

Denn es ist zudem damit zu rechnen, dass die Geräteindustrie künftig ihre Abgaben um genau den Prozentanteil kürzt, der bisher den Verlagen zu Gute kam. Am Ende könnte alles nicht auf eine Besserstellung der Autoren hinauslaufen, sondern auf eine Besserstellung der Industrie. Dass man nur gemeinsam stark ist, zeigt das abschreckende Beispiel USA, wo im Vergleich zu Deutschland nur ein Drittel der Tantiemen erzielt werden.

So leidenschaftlich bei den deutschen Verlegern debattiert wurde, so ruhig und geschäftsmäßig ging es bei den angelsächsischen zu. Brexit oder Trump? In Frankfurt kein Thema. Ein randständig-verschämtes Panel über die Auswirkungen des EU-Austritts für die akademischen Verlage in Großbritannien blieb eine Ausnahme. Im Übrigen waren David Hockney und Harry Potter würdige Vertreter Englands auf der Buchmesse. Nicht nur der bildende Künstler Hockney beweist mit einem Sumo-Band, was für ein Schwergewicht er ist, sondern auch den Megabestseller "Harry Potter und das verwunschene Kind" gibt es in einer Folianten-Ausgabe.

Solch inszenierte Größe wirkt wie eine Demonstration von neuem Selbstbewusstsein, was das gedruckte Buch angeht. Der digitale Wandel, der in den vergangenen Jahren die Buchmesse thematisch dominierte, war diesmal Off-Topic. Zum technischen Fortschritt scheint für den Augenblick alles gesagt zu sein.

Für jeden Tag der Messe hat die Lyrikerin Daniela Danz ein eigenes Gedicht geschrieben, das nur an diesem einen Tag auf einem Flatscreen nachzulesen ist. In einem von diesen Gedichten heißt es: "du hast die Stunden ausgezogen und wieder / angezogen und in die Maschine gesteckt / man kann sie getrost noch einmal nehmen / ein kleiner Vorrat fast nicht benutzter Tage". Besser kann man sie kaum beschreiben, diese Tage in der Waschmaschinentrommel der Buchmesse, die so durchgedreht sind, so hochtourig und doch so flüchtig wie fast nicht benutzt.

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