Frankfurter Buchmesse:Auf der falschen Seite

Buchmesse

Can Dündar, der verfolgte Ex-Chefredakteur, prangert auf der Buchmesse die Stillhaltepolitik Europas gegenüber der Türkei an.

Von VOLKER BREIDECKER

"Herr Erdoğan, lassen Sie die Leute frei!" Der Satz, den Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse am Dienstag in den voll besetzten Festsaal rief, wurde mit lange anhaltendem Applaus bedacht. "Mag sein, dass die Politik schweigt - ich nicht!", hatte Schulz auf das von seinem Vorredner angeprangerte "Schweigen der Politik" zu den beklemmenden Vorgängen in der Türkei reagiert: Heinrich Riethmüller, der Vorsteher des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, hatte bei seiner Begrüßungsansprache eine aus ihrer Gefängniszelle geschmuggelte Grußbotschaft der türkischen Schriftstellerin Aslı Erdoğan verlesen (SZ vom 19. Oktober).

Im Namen der in Frankfurt versammelten literarischen Welt und im Beisein der niederländischen und belgischen Staatsoberhäupter, den Vertretern des diesjährigen Ehrengastes Niederlande und Flandern, rief Riethmüller den Hunderten seit diesem Sommer in der Türkei inhaftierten Schriftstellern und Journalisten ermutigend zu: "Wir stehen auf Ihrer Seite!"

Wirklich? Worte in das Ohr von Angela Merkel und anderer deutscher und europäischer Politiker, die sich längst fragen lassen müssen, auf welcher Seite sie eigentlich stehen. Für Can Dündar, den in seiner Heimat verfolgten langjährigen Chefredakteur der Zeitung Cumhuriyet, stehen Deutschland und der Westen in ihrer Stillhaltepolitik gegenüber Erdoğan und seiner Regierungspartei AKP eindeutig "auf der falschen Seite": Statt im Sinne ihrer eigenen demokratischen Werte Partei zu ergreifen für die "andere Türkei", für jene moderne, säkulare, europäische, aber schwach organisierte und gegenwärtig notleidende "andere Hälfte" des Landes, die eben jene demokratischen Werte teilten, habe die Bundesregierung hingegen ein "von vornherein schmutziges Geschäft" mit Erdoğan abgeschlossen, das in der Flüchtlingsfrage ohnehin längst gescheitert sei. Dündar, den wegen seiner regierungskritischen Haltung und wegen der Aufdeckung geheimer Waffenlieferungen der Türkei an syrische Gotteskrieger bei einer Rückkehr in die Türkei neuerlich das Gefängnis erwartet - "Lebenslänglich" hatte Erdoğan schon einmal für ihn gefordert -, suchte am ersten Tag der Messe an einem verabredeten, beinahe klandestinen Ort das Gespräch mit ausgewählten internationalen Pressevertretern.

Zur Bewährungsprobe wird die Buchmesse in Istanbul werden, mit Deutschland als Gastland

Dündar, dessen Frau in der Türkei als Geisel festgehalten wird, sprach nicht über sich und auch nicht über sein in Deutschland verlegtes, im Gefängnis verfasstes Buch "Lebenslang für die Wahrheit" (Hoffmann und Campe), sondern bat im Namen von rund 140 inhaftierten Kollegen um Beistand mit Wort und mit Tat: Laut zu sagen, dass ein Land, wenn es die verbürgten Menschenrechte nicht beachtet, auch nicht länger als europäisches Land angesehen werden könne.

Schmerzlich zu beklagen, sagte Can Dündar, sei der Verlust der modernen Türkei für Europa, einer Türkei, die allzu lange vergeblich vor Europas Tür auf Einlass gewartet habe. Dass - als "größte Enttäuschung in der Geschichte der modernen Türkei" - dem Land der Einlass in die EU verwehrt geblieben sei, habe das gegenwärtige Ausscheren aus der europäischen Staaten- und Wertegemeinschaft mit verursacht und den Westen damit zum unfreiwilligen und gegenwärtig auch freiwilligen Komplizen von Erdoğans Regime gemacht.

Katastrophal sei die Lage der türkischen Presse: Sein Land, sagte Dündar, sei für Journalisten gegenwärtig das "größte Gefängnis der Welt". Zugelassen sei nur noch eine Weltsicht - diejenige Erdoğans -, und wer ihr nicht folge, werde heute dort wie auch in anderen Teilen der Welt zum "Terroristen" erklärt: "Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Putin, Erdoğan, Donald Trump und andere Newcomer regieren", beschloss Dündar seinen eindringlichen Appell und fügte hinzu, in solch einer Welt nicht leben zu wollen.

Die Bewährungsprobe für Deutschland und auch für die Frankfurter Buchmesse rückt unterdessen nahe: Vom 12. bis 15. Dezember soll Deutschland das Gastland der Internationalen Buchmesse von Istanbul sein, ein Auftritt, der - wie die dortige Präsenz der deutschen Buchbranche seit Jahrzehnten - von Frankfurt aus geplant und ausgerichtet wird. "Hart in der Sache, aber höflich im Ton", sagt die Messesprecherin Katja Böhne, wolle man dort für die Freiheit des Wortes eintreten - und auch für die Freiheit langjähriger türkischer Gesprächspartner, die auch zur Istanbuler Messe "nicht werden kommen können" - weil sie in Gefängniszellen sitzen.

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