Frank Castorf:Sprechgranaten

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Ohne Notbremse: Der Regisseur inszeniert zum Abschied von der Berliner Volksbühne eine Abrechnung: Goethes "Faust" - ein Muss für Fans und Feinde.

Von Christine Dössel

Zwischendurch würde man in dieser Inszenierung gerne mal die Notbremse ziehen. So wie Gretchen in der U-Bahn, als es ihr zu blöd wird, dass der Tattergreis Faust sie anmacht. Da hält der Wagen dann mit einem Ruck an, und das schöne Fräulein steigt erhobenen Hauptes aus. Es will unbegleitet nach Hause gehen.

Im Theaterzug von Frank Castorf gibt es keine Notbremse. Wer hier einsteigt, weiß, dass er lange nicht wieder rauskommen und auf vielen Nebengleisen so manche Strapaze ertragen müssen wird, plötzliche Fahrplanabweichungen inklusive. Das ist jetzt bei Goethes "Faust" nicht anders als bei Castorfs Roman-Erkundungen auf den Spuren Dostojewskis. Goethe ist auch nur ein Stofflieferant für den höheren Assoziationswahnsinn, mit dem Castorf einer komplex durchglobalisierten, durchökonomisierten Welt beizukommen versucht.

Und doch liegt diesmal etwas Besonderes in der Luft, was sich auch in einer besonderen Aufmerksamkeit und Duldsamkeit - wenn nicht gar Andacht - im Publikum äußert. Und am Ende in einem besonders begeisterten Applaus. "Faust" ist Castorfs letzte große Inszenierung als Intendant der Berliner Volksbühne und damit schon jetzt ein historisches Ereignis. Ein Abend, der das Ende einer gloriosen Ära einläutet. Dessen sind sich alle im Publikum bewusst. 25 Jahre lang hat der Ostberliner Regie-Zampano dem Haus am Rosa-Luxemburg-Platz seine einzigartige Prägung gegeben. Dieses Theater, man nimmt es mit einer gewissen Wehmut wahr, ist noch immer das coolste der Republik. Ein Ort des Wahnsinns und der Widerständigkeit. Allein diese exzessiv sich verausgabenden Schauspieler! Wie sexy und schön sie sind. Man bestaunt sie wie seltene Tiere.

Im Juni will Castorf noch eine "kleine Inszenierung" nachreichen, dann wird der umstrittene Museumsmann Chris Dercon das Haus übernehmen. Dieser kriegt gleich in den Anfangsszenen von "Faust" sein Fett weg, wenn der geschmeidige Stepptänzer Alexander Scheer (eigentlich als "Lord Byron" mit im Spiel) ihn als alerten Direktor mit belgischem Akzent parodiert. Der "Mann, der recht zu wirken denkt", findet das auf der Bühne Gezeigte "null positiv" und "ein bisschen provinziell". Seine Devise könnte von Dr. Heinrich Faust persönlich stammen: "Think global, fuck local." Martin Wuttke gießt ihm ein Bier über den Kopf, und das war's dann auch schon mit dem Dercon-Bashing.

Es ist eine wild blubbernde, mit vielen Fremdingredienzien angereicherte Szenen- und Themenmischung aus "Faust I" und "Faust II", die Castorf in sieben langen Stunden (mit nur einer Pause) zusammenbraut. Wobei er erstaunlich viel aus der Tragödie erstem Teil übernimmt, wenn auch nicht szenisch-handfest und chronologisch, so doch wiedererkennbar und in einzelnen Passagen ungewöhnlich zart und poetisch. Fausts Lebensunmut als alternder Gelehrter, der Pakt mit dem Teufel zwecks Lustgewinn, die Gretchen-Tragödie - alles da. Selbst ein leibhaftiger Pudel wird aufgeboten. Wohingegen der Regisseur den irrlichternden zweiten Teil, in dem Faust mit Mephisto in die "große Welt" aufbricht und zum global agierenden Kapitalisten und Beutemacher wird, nur als Motiv-Steinbruch hernimmt für einen Diskurs, der ihn schon lange umtreibt: die Auseinandersetzung mit der kolonialistisch-imperialistischen Vergangenheit Europas und den daraus resultierenden Spätfolgen wie Krieg, Rassismus, Terror.

Was hat "Faust" mit dem Algerienkrieg zu tun? Nun ja, es geht um Unterdrückung

Wie schon in Brechts "Baal" und Célines "Reise ans Ende der Nacht" am Münchner Residenztheater handelt Castorf diese Thematik nun auch im "Faust" am Beispiel Frankreichs ab, dessen einstiges Kolonialmachtgebaren zum Beispiel Mitte der Fünfzigerjahre den Algerienkrieg zeitigte. Der von Castorf gerne in Anspruch genommene Jean-Paul Sartre unterstützte die Befreiungskämpfe der französischen Kolonien. In seinem Vorwort zu Frantz Fanons Dekolonisations-Manifest "Die Verdammten dieser Erde" schreibt Sartre: "Einen Europäer erschlagen heißt, zwei Fliegen auf einmal treffen, nämlich gleichzeitig einen Unterdrücker und einen Unterdrückten aus der Welt schaffen. Was übrig bleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch."

Solchen Denkspuren frei flottierend folgend - und sie ausgiebig zitierend -, verlagert Castorf nun also das deutsche Nationaldrama "Faust" kurzerhand nach Frankreich, lässt es in einer Pariser Halb- und Unterwelt spielen und auch die algerische Revolution nicht zu kurz kommen, den Widerstand "mit der Gewalt der Faust" à la Fanon. Dabei geht es insbesondere auch um die Rolle der "entschleierten Frau" in diesem Befreiungskampf. Denn die Algerierin ist ja gewissermaßen eine doppelt Unterdrückte, als Frau wie als Kolonialisierte. Nun aber nimmt sie - wie die Inszenierung in alten Spielfilmausschnitten zeigt - das Kopftuch ab und das Täschchen mit der Sprengladung selbst in die Hand. Wenig später fliegen in einem Café in Algier ein paar Franzosen in die Luft ...

Das kommt bei allem politischen Ernst natürlich nicht als graue Revolutionstheorie daher, sondern als turbulente Sause in bester Volksbühnen-Tradition. Mit Brüllorgien und schrägen Extempores. Selbst Marc Hosemanns ordinär-humoriger Mephistopheles übernimmt Partisanentexte, obwohl eher Mitglied der Spaßguerilla. Angela Guerreiro vollzieht zu Afro-Klängen befremdliche Voodoo-Rituale und Tänze. Sie ist in Castorfs "Faust"-Überschreibung eine von drei farbigen Schauspielern. Die anderen beiden sind die resolut ihre üppigen Reize zeigende Thelma Buabeng und der Hip-Hop-erprobte Abdoul Kader Traoré, der Paul Celans "Todesfuge" auf Französisch rezitiert. Das Gedicht geht einem durch Mark und Bein. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", heißt es darin mit Blick auf den Holocaust. Ein Meister aus Deutschland ist auch Dr. Faust. Aleksandar Denić hat für Fausts Tour de Force, die eine Tour de France ist, eine seiner spektakulären Drehbühnengehäuse gebaut: eine finstere Burg Schreckenstein mit Zinnen, Hinterhöfen, Geisterbahn-Eingang ("L'enfer" steht da: "Die Hölle") sowie etlichen Kammern und Kaschemmen, die mal wieder nur über Live-Zuschaltungen auf zwei riesigen Videowänden einsehbar sind.

Castorf parodiert sich selbst: als schwitzender Varieté-Direktor, der den Akteuren die Peitsche gibt

Die Screens überragen die Szenerie wie Billboards, machen zwischendurch Reklame für alte Horrorfilme und eine "Exposition Coloniale". An den Wänden Plakate von den kolonialen Völkerschauen der Zwanzigerjahre. Es gibt sogar eine Metro-Station. Ins Seitenfoyer hat Denić einen alten U-Bahn-Waggon an der Station "Stalingrad" gebaut. Die Szenen, die dort live gefilmt und auf die Bühne übertragen werden, gehören zu den Höhepunkten des Abends. Da gibt es Metro-Fahrten mit sexuellen Übergriffen und anderen Ausfälligkeiten, während an den Fenstern Paris vorüberzieht, der Eiffelturm, die Seine. Handwerklich ist das exorbitant gut gemacht. Als Theater wie als Film.

Überhaupt ist die Inszenierung von einem hohen Schauwert. Dafür ist man ganz besonders dankbar, wenn Szenen sich mal wieder endlos ziehen - und der Verständlichkeit ent-ziehen. So gibt es enervierend lange Passagen aus Émile Zolas Roman "Nana", der im Pariser Kurtisanen- und Theatermilieu spielt: eine Steilvorlage für viel Operetten-Klamauk mit aufgekratzten Frauen, die wenig anhaben. Lilith Stangenberg, Hanna Hilsdorf und die eigens aus München dazugeholte Sprechgranate Valery Tscheplanowa machen den legendären Volksbühnen-Ludern optisch und kreischtechnisch alle Ehre. Und wenn Daniel Zillmann als schwitzender Varieté-Direktor Bordenave seinen Schauspielern die Peitsche gibt, parodiert Castorf sich in solchen Szenen auch selber. Wie er sich mit schöner Selbstironie auch im alten Lüstling Faust zu spiegeln scheint.

Volksbühnen-Urviech Martin Wuttke hat als Faust noch einmal Gelegenheit für den ganz großen Schauspieler-Parcours, und er bewältigt ihn glänzend. Als zahnloser Uralt-Faust mit fieser Greisengummimaske im Gesicht mümmelt er im Ton des alten Bernhard Minetti - saukomisch. Er ist aber auch ein glatzköpfiger Schreckensmann und in verjüngter Form ein lässiger Iggy Pop. Fausts "Habe nun, ach"-Monolog kotzt und würgt Wuttke furios bei einem epileptischen Anfall heraus - eine Nebenwirkung jenes Gebräus, das die tolle Hexenküchen-Matrone Sophie Rois ihm verabreicht. Rois tritt an diesem Abend nur kurz auf, aber mit solch einer komischen Wucht und Energie, dass die Bude bebt. Bevor sie wieder geht, singt sie Schuberts trauriges Lied vom "Leiermann", begleitet von Sir Henry auf dem Akkordeon. Was für ein Moment!

Erlösung ist an diesem Abend nicht zu haben, zumindest nicht für Faust, den ewigen Täter. Der fährt am Ende, ganz klein und dumm, auf einem Dreirad im Kreis herum und kriegt von Marc Hosemann mit einem Algerien-Fähnchen eins auf die Mütze. Während die Männer dann noch rumstreiten, wer nun eigentlich die Wette gewonnen hat, Faust oder der Teufel, übernimmt Valery Tscheplanowa in der ihr eigenen Klarheit das Wort. Sie, die an diesem Abend Gretchen war und Engelchen, Helena und Hure, steht nun in barbusiger Schönheit als pars pro toto da: "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan." Castorfs Horror-"Faust" ist nicht zuletzt auch eine Feier der Frau - und eine Abrechnung mit dem Männlichen als dem Vergänglichen.

Ein Alterswerk-Abend. Ein Kunstwerk, aus dem Vollen geschöpft. Der Castorf-Kosmos noch einmal ausgeschritten (und durchlitten) - vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Das Chaos ist noch nicht aufgebraucht. Leicht wird der Abschied nicht.

© SZ vom 06.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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