Fotoserie "Daily Portrait":Nackter Mann vor Nashorn

Ist das noch Exhibitionismus oder schon Kunst? Fotograf Martin Pavel veröffentlicht im Netz Bilder nackter Menschen aus Berlin - und immer mehr machen mit. Eine Annäherung.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

17 Bilder

Daily Portrait

Quelle: Daily Portrait

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Am Anfang war nicht Eva, sondern Elle. Das ist nicht die Person auf diesem Bild, die namenlos bleiben soll. Sondern Elle, die den Anfang machte, sich nackt fotografieren zu lassen. Und zwar von Martin Pavel, einem tschechischen Fotokünstler. Pavel übergab ihr an diesem Tag im März 2015 seine Fotokamera, am darauffolgenden Tag fotografierte Elle eine andere Berlinerin, ihrer Kleidung entledigt, in deren Wohnung. Seitdem sind täglich neue Nackte hinzugekommen zu Pavels Projekt "Daily Portrait".

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Und es werden auch immer mehr ganz Nackte. Elle bedeckte ihre Brüste noch mit ihrem langen Haar, ihre Nachfolgerin posierte in Unterwäschegarnitur plus Strumpfhose. Mittlerweile finden sich unter den täglich Porträtierten aus Berlin aber immer mehr Teilnehmer, die sich nicht nur oben ohne zeigen - sondern auch unten.

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Oder wahlweise unten ohne statt oben. Pavel, der seit dem ersten Bild nicht mehr selbst fotografiert, aber immer dabei ist und arrangiert, lässt seinen Models freie Wahl, was sie zeigen wollen und wie viel. Von sich - oder von ihrer Wohnung.

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Das klingt erst einmal skurril. Wieso sollten sich wildfremde Menschen von wildfremden Menschen für ein unbekanntes Publikum in ihrem ureigensten Umfeld ablichten lassen, von dem man auch noch auf sie schließen kann, durch private Gegenstände?

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Ach so, wir waren ja schon ein ganzes Stück weiter. Seit selbst Promi-Damen wie Madonna ihren Allerwertesten, Po und Brust wie Kim Kardashian, oder weitere Körperteile in der Öffentlichkeit und über die sozialen Netzwerke verbreiten, darf man den Normalo eigentlich auch nicht mehr fragen, warum er das tut. Man macht das halt jetzt so. Die Geheimdienste können sich angeblich auch nicht mehr retten vor per Smartphone verschickten Bildern von Gemächten und ähnlich pikanten Details.

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In Berlin ist es ohnehin längst kein echter Aufreger mehr, nackt zu sein. Es gibt Clubs, in denen man erst ungläubig angeguckt und dann im Zweifel rausgeschmissen wird, wenn man sich weigert, an der Garderobe sämtliche Klamotten abzugeben - inklusive Unterwäsche. Es gibt kaum eine U-Bahn-Linie, die nicht ihren eigenen FKKler hat. Mit Sex hat das alles weniger zu tun als mit Exhibitionismus in einer Stadt, in der man sonst kaum noch auffallen kann.

Womöglich hat es auch noch mit Überbleibseln aus der guten alten DDR-Freikörperkultur-Zeit zu tun. Und außerdem mit der durchaus löblichen Attitüde, dass es hier auf Äußerlichkeiten in der Bewertung von Menschen weniger ankommt als anderswo. Also kann man das mit den Kleidern auch ganz sein lassen, wenn man möchte. Ein bisschen Hippie ist Berlin nämlich immer noch, nicht einfach nur noch hip.

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In diesem freizügigen Berlin fand Martin Pavel schnell Unterstützer für sein Projekt "Daily Portrait". Allerdings gab es leichte Anlaufschwierigkeiten.

Pavel hat es mit Zahlen, mit der Alltäglichkeit und vor allem mit der Zahl 365: 2012, damals noch in Prag, lud er 365 Menschen in sein Studio ein, um sie zu fotografieren. Allerdings angezogen. 2013 fotografierte er 365 Menschen auf den Prager Straßen. 2013 lud ihn ein Fan nach Berlin ein, um ihn bei seinem täglichen Fotoprojekt zu unterstützen. Pavel fotografierte ihn und ein paar weitere Berliner in deren Wohnungen - doch irgendetwas fehlte. Pavel brach das Berlin-Projekt ab.

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Er ging nach Prag zurück und fotografierte Menschen in der Metro, während er weiterhin über Berlin nachdachte. Anfang 2015 verlor er seine Kamera in einer Prager Bar. Am nächsten Morgen wachte er auf und hatte die Idee: Er selbst muss gar nicht fotografieren, das können andere für ihn tun. Am besten die Models selbst. Das Berlin-Projekt war neugeboren.

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Der Berliner Zeitung sagte der Künstler in einem Interview: "Das Wort Berlin muss sich eigentlich gar nicht auf Stadt selbst beziehen, im geographischen Sinne. Sondern man kann es mehr als Prinzip verstehen. Ich als Fotograf kann dieses Prinzip gar nicht ausdrücken, aber diese Idee kann durch das Zusammenspiel der Berliner untereinander ausgedrückt werden."

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Und das geht so: Der Künstler ruft interessierte Berliner dazu auf, sich bei ihm anzumelden. Wer volljährig ist und entweder in Unterwäsche oder ganz nackt für ihn in der eigenen Wohnung posieren will, muss am darauffolgenden Tag auch jemand anderen in dessen Wohnung fotografieren. Darüber lernen sich die beiden Fremden, die Pavel über das Projekt zusammenbringt, schon mal ganz gut kennen. Und zwar nicht nur Wohnung und Geschlechtsteile: Manche würden sich auch befreunden oder eine Ausstellung zusammen besuchen, erzählt Pavel.

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Und auch der Betrachter soll Näheres über diese Berliner erfahren. Auf die Frage, warum die Bilder weder mit Namen noch Beruf der Porträtierten versehen sind, wenn es doch darum geht, sie kennenzulernen, antwortet Pavel:

"Ich denke, man kann versuchen, all das über das Foto selbst herauszufinden. So beschäftigt man sich auch viel intensiver mit dem Bild. Liest man diese Infos als Text, dann denkt man nicht mehr so sehr darüber nach. Menschen neigen üblicherweise zu einfachen Kategorisierungen. Ich will diesen Prozess unterbrechen. Die Arbeit oder der Wohnort machen ja nicht die vollständige Person aus. Man kann sich auch anhand anderer Informationen ein Bild von den Menschen machen: Warum nicht durch ihre Lieblingsfarbe oder Lieblingsblumen? Das und noch vieles mehr kann man in den Bildern lesen."

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Aber warum sollte man die nackten Berliner so dringend und so nahe kennenlernen wollen? Erstens weil Nacktseindürfen in dieser liberalen Stadt nicht immer nur ein Zeichen von Freizügigkeit, sondern manchmal auch von Ignoranz sei. Jeder dürfe hier halt fast alles machen, ohne dass es andere groß interessiere.

Und zweitens gehe es ihm ums Prinzip, sagt der Künstler: "Ich denke, dass Menschen in unserer Gesellschaft überdefiniert sind. Wir konzentrieren uns zu sehr darauf, uns selbst und andere Menschen einzuordnen. Unter diesen ganzen Schichten und Ebenen von Kategorien verlieren wir unsere Beziehung zueinander."

So nackt und anonym wie die Berliner in den Bildern gezeigt werden, könnten sie sich frei wie nach der Geburt fühlen, auch frei von Schubladen, sagt Pavel. "Diese Kategorien werden durch die Sachen repräsentiert, die auf den Bildern zu sehen sind. Sie treten in den Hintergrund. Deswegen sind die Personen selbst unbekleidet - um nur für sich selbst zu stehen. Ich denke, dieser Akt kann sehr befreiend sein."

Sein Projekt sei kein politisches Statement sondern habe eher Dokumentationscharakter und wolle "das Menschsein feiern".

Fotoserie Daily Portrait

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Auf die Frage, was seine Nacktbilder von den anderen Nacktbildern aus dem Netz unterscheidet, sagt Pawel: "Menschen machen ihre Nacktbilder üblicherweise dann, wenn sie alleine sind. Das ist der Unterschied. Sie machen Nackt-Selfies. Was bedeutet: Sie sind in ihrer eigenen Perspektive gefangen. Das verzerrt die Fotos, sie sind unvollständig. Menschen müssen von anderen Menschen gesehen werden, das macht sie vollständig. Allerdings sollte das nicht via Bildschirm geschehen, sondern in der Realität."

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Der Künstler will seine Nacktbilder also als soziale Interaktion verstanden wissen. Nebenbei erfährt der Betrachter, der nur betrachtet und sich nicht selbst nackt ablichten lässt, auch noch einiges aus den Bildern. Nämlich dass manche ihren nackten Körper gerne mit Fruchtbarkeitssymbolen zieren, die einen mit Blumen, ...

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... die anderen mit Obst.

Martin Pavel: Daily Portrait

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Manch einer versteht es, aus Wohnungseinrichtung und Genitalien eine Komposition zu schaffen, ...

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... ein anderer integriert seine Nacktheit in alltägliche Haushaltsverrichtungen. Dieses Foto zeigt außerdem: In Berlin ist es keine Schande, wenn der Mann den Abwasch macht.

Apropos Wohnungseinrichtung: Die Bilder sagen auch etwas darüber aus, wie man sich in Berlin einrichtet - oder eben nicht. Da ist viel Spartanisches dabei, aber auch viel Übergangswohnraum. Die Bilder erzählen somit auch vom Leben in dieser sehr besonderen Stadt.

Wer mitmachen will (und in Berlin lebt), kann den Künstler kontaktieren unter: portraitdaily@gmail.com. Im Herbst kommenden Jahres sollen die Bilder in einer Galerie ausgestellt und in einem Buch veröffentlicht werden.

Und noch einen Anreiz hebt sich der Künstler für das Ende des Projekts auf: Am letzten der 365 Tage wird er sich selber fotografieren lassen - nackt. Schwanz einziehen gilt eben nicht, in Berlin.

© SZ.de/rus/jobr
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