Fotokunst:Alles offen

François-Xavier Gbré, Appartment du directeur I, Imprimerie Nationale, Porto Novo, aus „Tracks,“ 2012. © der Künstler und Galerie Cécile Fakhoury.

Eine andere Zeit: Verlassenes Apartment in Porto Novo, fotografiert von François-Xavier Gbré.

(Foto: Steidl Verlag)

Ein Bildband mit junger afrikanischer Fotografie legt den Kontinent nicht auf die üblichen Klischees fest. Das Medium wird nicht länger als Teil der ethnografischen Feldforschung wahrgenommen.

Von Jonathan Fischer

Ein Buch nur über afrikanische Fotografie? Mit vierzehn jüngeren afrikanischen Fotografen, die nicht dokumentieren, sondern sich in erster Linie als Künstler verstehen? Das wäre noch vor einem Vierteljahrhundert kaum denkbar gewesen. Wurden doch afrikanische Fotografen allzu lang bestenfalls als verlängerter Arm der ethnografischen Feldforschung wahrgenommen. Wie eigenständig und überraschend vielfältig sich Fotografie aus Afrika heute präsentiert, das zeigt nun ein so großartiger wie überfälliger Bildband: "Recent Histories - Contemporary African Photography and Video Art". Es ist eine sorgsam kuratierte und von erhellenden Essays begleitete Bestandsaufnahme der Walther Collection, der größten privaten Sammlung afrikanischer Fotografie und Videokunst.

Alles bleibt hier offen. Die Bilder der afrikanischen Fotografen nehmen zuerst einmal biografische Erfahrungen auf - und stellen die Frage nach Orientierung, Identität und kollektiver Zukunft zwischen globalen Herausforderungen und lokalen Wurzeln. Zum Beispiel Edson Chagas' Serie "Found Not Taken". Vor oft brüchigen, blätternden Wänden hat der Angolaner abgelichtet, was Bewohner seiner Heimatstadt Luanda, in Newport oder London auf dem Bürgersteig haben liegen lassen. Kaputte Stühle, ein Rollwägelchen, eine Bierflasche, eine Satellitenschüssel. Man kann diese stilisierten Werke mit der Ästhetik von Farbflächen-Malerei assoziieren, oder in ihnen die Abfallprodukte des globalisierten Warenflusses erkennen - Chagas aber inszeniert hier auch Erinnerungen an seine Jugend in einem Armenviertel, die Tristesse und Möglichkeitsform eines Lebens am Rande. Um Verlorenes, Unfertiges, Mögliches geht es hier immer wieder. Etwa in François-Xavier Gbrés Innenaufnahmen verlassener Paläste und Amtsstuben, die während der Kolonialzeit oder kurz nach der Unabhängigkeit erbaut wurden. Die großartig verwitterten Ruinen des Vergangenen wirken wie Symbole für nicht eingelöste Zukunftsversprechen. Die Zweifel an der Zukunft leiten auch Michael Tsegayes "Future Memories". Der äthiopische Fotograf nähert sich Addis Abeba, der Stadt in der er aufwuchs, aus einer fast melancholischen Distanz. Aufnahmen aus der Vogelperspektive zeigen, wie Hochhäuser und Baustellen sich in die einstigen dörflichen Strukturen hineinfressen, erinnern daran, dass die mosaikartigen Wellblechhütten-Dächer und Wäscheleinen bald keinen Platz mehr in dieser neuen City haben werden.

Zina Saro-Wiwa bildet die emotionale Kartografie einer Widerstandsbewegung ab

Demgegenüber steht eine künstlerische "Wiederverzauberung" der Welt, wie sie der kamerunisch-schweizerische Kurator Simon Njami fordert, die Fotografie als Mittel zur Sichtbarmachung des Unsichtbaren, Magischen, Transzendenten. So besucht Em'kal Eyongakpa mit seiner Kamera energetisch aufgeladene Zwischen-Orte: "Ketoya Speaks" bezieht sich auf ein abgelegenes Dorf im Südwesten Kameruns, einer Region, die Anfang des 20. Jahrhunderts bewaffneten Widerstand gegen die deutsche Kolonialmacht leistete.

Auch die Aufnahmen der Nigerianerin Zina Saro-Wiwa zeichnen die emotionale Kartografie einer Widerstandsbewegung, wenn sie farbenfrohe Masken-Tänzer in der von Umweltverschmutzung und Ausbeutung geprägten Ölförder-Region im Nigerdelta inszeniert. Und wer mit Afrika immer noch allein Katastrophen-Bilder assoziiert, sollte einmal durch Andrew Esiebos Party-Szenen aus Lagos blättern. "Highlife" titelt die Fotoserie. Drei Jahre lang war der Fotograf dafür in Clubs und auf Partys unterwegs - und hat nicht nur Bilder von üppig dekorierten Sälen, erleuchten DJ-Kanzeln, extravaganten Kostümen und über den Dancefloor verstreuten Geldscheinen mitgebracht, sondern auch ein erhöhtes Bewusstsein für die dahinterliegenden sozialen Realitäten. "Egal ob man die nächste Woche pleite ist, es geht darum, für eine Nacht der Härte des Lebens zu entfliehen". Ja, auch dieser fröhliche Exzess ist die afrikanische Großstadt von heute.

Recent Histories - Contemporary African Photography and Video Art from the Walther Collection. Steidl Verlag, Göttingen 2017. 384 Seiten, 58 Euro.

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