Fotografie: Jeff Wall in Brüssel:Vom Vorteil, ein Provinzler zu sein

"Niemand hat bemerkt, dass wir ideologisch inkorrekt waren": Der kanadische Fotopionier Jeff Wall zeigt in Brüssel seine Kunstgeschichte. Ein Trampelpfad durch das eigene Werk. Die Bilder.

Catrin Lorch

6 Bilder

Jeff Wall in Brüssel

Quelle: Jeff Wall, Boy Falling from Tree, 2010, Colour Photograph, 305,3 x 226 cm, Courtesy of the artist

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Trampelpfad durch das eigene Werk: Der kanadische Fotopionier Jeff Wall zeigt in Brüssel seine Kunstgeschichte. Die Bilder.

Eine schwarze Linie windet sich durch matschiges Grasgrün. Das Foto muss im Winter aufgenommen sein, am oberen Bildrand staken vor Telefonmasten kahle Baumgerippe. Der "Trampelpfad" von Jeff Wall heißt im englischen Original "The Crooked Path", was auch einen Weg beschreiben kann, der gekrümmt, verwachsen, schräg oder unlauter ist. "Ein kleiner Pfad, den seine Benutzer gemacht haben, planlos", schreibt der Künstler, "eine leichte Spur des Ungehorsams oder der Unabhängigkeit". Die hängt jetzt am Beginn einer außergewöhnlichen Ausstellung im Brüsseler Bozar, der sie auch ihren Titel leiht. Das Konzept der Planlosigkeit wird auch in anderen Werken deutlich, etwa in "Boy Falling from Tree", was so ganz und gar nicht als kalkuliert bezeichnet werden kann.

Text: Catrin Lorch/SZ vom 21.07.2011/sueddeutsche.de/cris

Alle Bilder stammen aus der besprochenen Ausstellung.

Kai Althoff

Quelle: Kai Althoff Untitled 2010 Oil, acrylic and varnish on wool 132,1 x 121,9 cm Courtesy Gladstone Gallery, New York

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Gemeinsam mit dem Kunsthistoriker Hans De Wolf konfrontiert Jeff Wall dort 25 eigene Arbeiten mit gut 100 Werken anderer Künstler, Lebender und Verstorbener, darunter nicht nur Fotografen, auch Konzeptkünstler wie Lawrence Weiner, Douglas Huebler, ein Dan Flavin oder André Breton, die Maler Kai Althoff (im Bild) und Kerry James Marshall, die Filmemacher Pier Paolo Pasolini und Michael Haneke oder Franz Kafka. Jeff Wall, der im Jahr 1946 in Vancouver geboren wurde, hat 1967 angefangen zu fotografieren noch bevor er Kunstgeschichte studierte, er war also vorzüglich im vergleichenden Sehen vorgebildet, als er in der Sammlung des Pariser Centre Pompidous auf sein "Picture for Women" (1979) in direkter Nachbarschaft zu einem frühen Bruce-Nauman-Film stieß und überrascht feststellte: "Sie waren so verwandt in ihrer Haltung in Bezug auf das Atelier und was man dort macht."

Jeff Wall in Brüssel

Quelle: In front of a nightclub, 2006 © Jeff Wall - courtesy of the artist

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Was Jeff Wall aufnimmt ist so dicht und präsent, weil er seine an der Peripherie des Alltäglichen angesiedelten Tableaus ausarbeitet wie Filmbilder oder Gemälde. Weswegen er nicht nur als ein Erneuerer der Fotografie gilt, dessen Arbeit es zu verdanken ist, dass die Kunstgeschichte und die Ausstellungsmacher sich in den Achtzigern dem jungen Bildmedium zuwandten. Seine meterbreiten, monumentalen Leuchtkästen sind darin bewährt, auch in Kontexten wie einer Documenta als singuläre Kompositionen zu erscheinen - ein Effekt, den seine letzte Ausstellung in Europa, die 2010 in Dresden stattfand, durch die Hängung in Einzelkabinetten noch überbetonte.

Jeff Wall in Brüssel

Quelle: The Thinker - 1986 - Transparency in lightbox - 221 x 229 cm © Jeff Wall - courtesy of the artist

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Es ist überraschend, wie bruchlos die Ikonen Jeff Walls an die Kunst anderer anschließen. Ihr überkodierter, funkelnder Motivreichtum, wie der einsam am Straßenrand auf Dachziegel, Zementbrocken und Baumwurzel in Rodin-Pose aufgesockelte "The Thinker" (1986, im Bild) oder "After ,Invisible Man' by Ralph Ellison, the Prologue" (1999 bis 2000), dieser Raum, in dem einer auf Sperrmüll haust, während unter der Decke tausende von Glühbirnen wuchern wie Tropfsteine, Walls XXL-Ikonographien, die "ein kontemplatives Verhältnis zur Reportage pflegen" gewinnen im Umfeld von Konzept, Fotohistorie und sogar zeitgenössischer Malerei.

Jeff Wall in Brüssel

Quelle: Jeff Wall - Insomnia - 1994 - Transparency in lightbox - 172 x 213.5 cm - courtesy of the artist

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Es sind nicht die vielzitierten Motive von Menzel, Goya oder Manet, die Wall jetzt zum Vergleich anbietet, sondern unter anderem die harte amerikanische Fotogeschichte eines Walker Evans oder Alfred Stieglitz, von Weegee und Diane Arbus. Es überrascht, dass der Konzeptkünstler dabei durchaus auf dramatische Motive fokussiert - beispielsweise die immer wieder auftauchenden liegenden Körper, vom Jungen am Strand oder einem gehäuteten Kaninchen über schlafende Tramps bis zum Gewaltopfer. Man wird diese hilflose Position auf "Insomnia" wieder erkennen, einer Fotografie Walls aus dem Jahr 1994, für die er einen Mann unter einen Resopaltisch legt, man versteht aus diesem Zusammenhang, dass der Schlaflose auf den dunklen Fliesen vor den mintgrünen Küchenfronten so verloren ist wie seine Vorläufer im Sand, auf dem Hackklotz oder dem dunklen Straßenpflaster.

Jeff Wall in Brüssel

Quelle: Jeff Wall - Overpass, 2001 - Transparency in lightbox - 214 x 273.5 cm - courtesy of the artist

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Dafür entschädigt der Katalog, ein Lesebuch, in dem Michael Fried Walls Werk in Bezug auf Color Field Painting liest, Hans Belting einen Essay über den "Denker" beisteuert und der Genter Altar Jan van Eycks von Martin Honert gelesen wird. Er zielt nicht nur in das Herz dieses Werks, sondern auch davon, was es bedeutet, ein Künstler zu sein. In Gesprächen offenbart Wall viel vom Selbstverständnis seines kanadischen Umfelds, das in den vergangenen Jahren international zunehmend Beachtung findet. "Ja", sagt Jeff Wall, auch er sei von Clement Greenberg beeinflusst gewesen. Aber in Vancouver musste man dessen in New York formulierte strikte Verdammung des Surrealismus nicht teilen, konnte sich ungestört mit dem 19. Jahrhundert beschäftigen. "Das ist einer der Vorteile, ein Provinzler zu sein: Niemand hat bemerkt, dass wir ideologisch inkorrekt waren."

© SZ vom 21.07.2011/cris
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