Fotografie: Jeff Wall:Die Welt am Rande

Bilder, die zu dröhnen scheinen: Die Sonderausstellung "Jeff Wall. Transit" im Dresdner Lipisiusbau zeigt das Elementare ohne die Beiläufigkeit einer beliebigen Alltäglichkeit zu verlassen.

G. Seibt

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Bilder, die zu dröhnen scheinen: Die Sonderausstellung "Jeff Wall. Transit" im Dresdner Lipisiusbau zeigt das Elementare ohne die Beiläufigkeit des Alltags zu verlassen. Jeff Wall, der kanadische Fotokünstler, ist der Meister der Ränder. Im gegenständlichen Sinn, weil er oft Naturreste neben Industriegeländen oder Verkehrswegen zeigt, aber auch in symbolischer Hinsicht: Wall stellt in seinen großformatigen, in Lichtkästen von der Rückseite erleuchteten, jedes Detail mit gleicher Schärfe exponierenden Bildfindungen Konstellationen und Momente dar, in denen die realistisch wiedergegebene Oberfläche der Welt sich zu etwas Fremdem, Magischem, Archaischem zu öffnen scheint. Im Bild: Coastal Motifs (1989) Text: Gustav Seibt/SZ vom 21.8.2010, alle Bilder aus: "Jeff Wall. Transit", Lipsiusbau bei der Galerie Neuer Meister im Albertinum in Dresden bis 10. Oktober. Katalog (Hg. Ulrich Bischoff / Mathias Wagner) im Schirmer/Mosel Verlag (49,80 Euro).

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Der "Trampelpfad" ("The Crooked Path") von 1991 zeigt ein ungenutztes Wiesenstück, das vor einer modernen Fabrik endet; es wird von einem gewundenen Fußpfad durchzogen, wie ihn Menschen, seit es Menschen gibt, im Gras hinterlassen (selbst Tiere könnten dies); in dem kleinen Niemandsland stehen drei Bienenstöcke und erinnern in der von einem technischen Horizont umgebenen Szenerie an urtümliche Naturnutzung. Das Ganze ist in einer winterlichen, grauen, nassen, blätterlosen, eigentlich unschönen Jahreszeit aufgenommen. Das Bild ist nicht nur still, es ist tonlos, es ist, als dröhne ein gewaltiges Schweigen gegen die eckigen Industriekästen im Bildhintergrund an - die zertrampelte, fast matschige Wiese wird die schäbige Zivilisation, die sich da ausbreitet, am Ende überleben. The Crooked Path (1991)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Randständig ist auch die "Geschichtenerzählerin" ("The Storyteller") auf einem der berühmtesten Bilder Walls, das 1986 entstand. Auch dieses Bild kann man nun in einer glänzenden, konzentrierten Schau wiedersehen, die von der Dresdner Galerie Neue Meister im Lipsiusbau neben dem Albertinum, also im Nahkontakt zur Malerei der Romantik, ausgerichtet wird. Das oft reproduzierte, die Figuren auf annähernd halbe Lebensgröße bringende Bild zeigt indianische Ureinwohner locker verstreut auf dem Abhang neben einer modernen Autobahnbrücke; sie liegen, sitzen, lauschen, denken nach. Die Erzählerin spricht mit dringlicher Gebärde am linken Rand, die über den Raum verteilten Zuhörer erinnern an Manets "Frühstück im Freien", aber ihr Gelände ist schmutzigfarben, fast so fahl wie der Brückenbeton. Umso leuchtender und nur im Original erfahrbar wirken die Farbakzente eines roten Hemdes und eines herbstgelben Buschs in der Bildmitte. Auch dieses Bild ... Storyteller (1986)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

... scheint Töne zu haben: das Gedröhn des Verkehrs einerseits, die Stimme der Erzählerin andererseits und dahinter, noch leiser, womöglich die Geräusche der düsteren Kiefern und Blätter. So vereint der Bildraum auch hier die ganze Spanne von Natur und Geschichte, oder wie Michael Fried, der bedeutendste Exeget von Wall, im Anschluss an Heidegger sagt, "the worldhood of the world", die Welthaftigkeit der Welt, bis zu dem Rand, wo sie stumm wird, von dem aus allein sie aber erfahrbar werden kann. Hier im Bild: Burrow (2004)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Die Leistung Walls besteht nicht zuletzt darin, dass er zu so elementaren Eindrücken kommt, ohne die Beiläufigkeit einer beliebigen Alltäglichkeit zu verlassen. So einen zerrupften gelben Busch gibt es überall, kaum beachtet man ihn, bei Wall wird er zu einer Chiffre, einem visuellen lyrischen Gedicht. Die Geschichtenerzählerin hat vielleicht nur Alltagsklatsch zu berichten, aber ihre Geste ist die einer vorgeschichtlichen Weltdeuterin. Das kleine Feuer, um das ihre Gruppe lagert, ist das prometheische, mit dem die Unterwerfung der Natur begann, die bis zum Donnern des Verkehrs auf der Brücke führte. Pipe opening (2002)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Eine neue Arbeit von 2009, die in Dresden erstmals zu sehen ist, zeigt eine Innenraum-Szenerie am Rand zwischen Trivialität und Unheimlichkeit: Zwei bewaffnete Männer durchsuchen den Raum eines Einfamilienhauses (Search of Premises). Das Bild ist erzählerisch, seine Assoziationen können von einer billigen Fernsehserie bis zu politischen Verwicklungen reichen - ist hier die Homeland-Security am Werk? Die Unpersönlichkeit des Raums lässt an Wohnungen von Schläfern, also Terroristen im Wartestand, denken - aber vielleicht ist alles nur Einbildung. Die Ironie, die man dem Bild zuschreiben kann, spielt mit der Paranoia, die der Terrorismus über die westlichen Gesellschaften gebracht hat: Gerade die Unauffälligkeit macht sich verdächtig, Papiere im Pappkarton können Staatsgeheimnisse enthalten, das aufdringlich hinweisende Fernrohr an der Wand mag nur zur Ablenkung dienen. Search of premises (2008)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Diese Bilder sind Inszenierungen, die doch dem Moment, in dem sie aufgenommen werden, vertrauen müssen. Andere Aufnahmen Walls sammeln nur stumme Wahrnehmungsreste, Rauchspuren an der Wand einer Bäckerei, eine vertrocknete Seife am Rand eines verdreckten Waschbeckens, Holzpfähle, Blechbüchsen mit alter Farbe, eine vergessene Rohröffnung in einer Holzwand. So reicht diese Kunst vom historischen Erzählformat bis zum Objet trouvé in einer Spannweite, die Michael Fried nur noch bei einem ganz anderen Künstler findet, dem Maler Adolph von Menzel, der die Brettergerüste eines Neubaus, ein beliebiges Bücherregal, einen schrundigen Fuß ebenso aufmerksam wiedergab wie ein Flötenkonzert von Friedrich dem Großen oder ein Eisenwalzwerk. Wall macht dabei, wie Fried hervorhebt, die Geschichtlichkeit des Alltäglichen fühlbar, seine zufällige Zeitlichkeit, die im fotografischen Medium eingefroren und der Kontemplation zugänglich wird. Restoration (1993)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Die Spannung von Zeitlichkeit und Kontemplation wird in der Dresdner Ausstellung ernst genommen, indem man den großen Bildleuchtkästen eigene Kojen zubilligt, die meditative Versenkung in jeden einzelnen erlauben. Dafür sollte der Besucher sich viel Zeit nehmen, er wird auch bei den allerberühmtesten, wie der strahlend leuchtenden Szene der Morgenreinigung in einer Mies-van-der-Rohe-Villa von 1999 immer noch Neues entdecken, reine Herrlichkeit: etwa eine hinter den Seifenschlieren eines Putzmittels durch eine Glaswand verschwommen auftauchende Frauenstatue, mutmaßlich von Maillol. Gibt es ein schöneres Abschiedsbild auf das 20. Jahrhundert und seine Kunst als diese Morgenreinigung? Wenn Vermeer einen zeitgenössischen Nachfolger hat, dann hier. Morning Cleaning (1999)

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(Foto: Jeff Wall / Staatliche Kunstsammlung Dresden)

Bemerkenswert ist auch, dass Walls anspruchsvolle Technik, die riesenhaften, hinterleuchteten Diapositive, einen Fluch der Kunst der Moderne weitgehend zurücknimmt, ihre einfache technische Reproduzierbarkeit. Natürlich sind auch hier Doubletten möglich, aber schon die Abbildung in Kunstbänden ist, wie selbst der vorzügliche Katalog zeigt, ähnlich unbefriedigend, wie es früher Radierungen nach Gemälden waren. Auch das ist ein Grund, diese Ausstellung nicht zu versäumen. Doorpusher (1984)

© SZ vom 21.08./22.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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