Fotograf Jeff Wall:Immer schön langsam

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"Ich arbeite hart, aber nicht schnell": Jeff Wall beim Aufbau seiner Ausstellung in der Pinakothek der Moderne. (Foto: Alessandra Schellnegger)

"Ein gutes Bild braucht immer auch ein Zufallsmoment": In seiner langen Karriere hat Jeff Wall erst 166 Fotos veröffentlicht, denn wiederholen will er sich auf keinen Fall. Eine Begegnung mit dem kanadischen Künstler in München, wo einige seiner treuesten Sammler leben.

Von Christian Mayer

Man sollte nicht zu lange hinsehen, sonst geraten die Dinge ins Wanken, und die Wirklichkeit löst sich auf wie feiner Nebel. Die Bühne ist spärlich beleuchtet, die Musiker wirken wie Glühwürmchen in tiefschwarzer Nacht, sie strahlen eine ungeheure Energie aus. Drei junge Männer in Aktion, sie haben sich warmgespielt, ihre E-Gitarren zielen aufs Publikum, das sich in dem viel zu großen Saal verliert; fast hat man das Gefühl, es könnte von der Leere verschluckt werden.

So viel zum Offensichtlichen, es bleiben ja genügend Fragen: Warum haben sich die Bandmitglieder mit bunter Farbe angemalt? Warum reagieren die Zuschauer unter der Lichterkuppel so unterschiedlich? Einige lassen sich von der Begeisterung der Musiker anstecken, andere stehen unbeteiligt im Halbdunkeln herum, so als müsste sie erst noch einer anknipsen.

"Band & Crowd" heißt das Kunstwerk von Jeff Wall, es sprengt mit vier Metern Breite die Maße und Vorstellungen, die man sich sonst von der Fotografie macht. Vor allem stellt es mögliche Besitzer vor logistische Herausforderungen: Als es vergangene Woche bei der Vernissage in der völlig überfüllten Münchner Galerie von Rüdiger Schöttle präsentiert wurde, sah es aus wie eine in die Wand verschraubte Kinoleinwand. So ein Schwergewicht muss man erst mal in den ersten Stock hieven, ohne dass der Altbau zusammenbricht.

Wenige Tage bevor die große Jeff-Wall-Ausstellung in München eröffnet, trifft man den Künstler in der Pinakothek der Moderne. Seine Mitarbeiter haben die in Kisten verpackten Breitwandformate in die richtige Position gerückt, an den Wänden sind schon die Module für die Leuchtkästen angebracht, die seit den Achtzigerjahren zum Markenzeichen von Jeff Wall gehören. Wer ihn ausstellt, braucht nicht nur dicke Wände und viel Platz, sondern vor allem Geduld: Der Kanadier zählt zu den langsamsten Fotografen der Welt. Und zu den aufregendsten, wenn man seine Arbeitsweise schätzen gelernt hat.

Wall ist 67 Jahre alt, aber das sieht man ihm nicht an, er trägt das Haar halblang nach hinten gekämmt; er könnte auch als Fußballtrainer durchgehen, wobei nicht ganz klar ist, ob er sportlich ist oder nur schlank. Der Künstler spricht leise, fast schon aufreizend überlegt. Er redet nicht so gern über sich selbst, was ihn zu keinem leichten Gesprächspartner macht. "Ich nehme mir immer die Zeit für ein Bild, das ist wahr", sagt er. "Ich arbeite hart, aber nicht schnell. Und ich will mich auf keinen Fall wiederholen. Sehen Sie das Foto da? Ich finde es gut, aber eines davon reicht."

Der Mann aus Vancouver ist dafür bekannt, dass in seinen innen beleuchteten Schaukästen die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit verschwimmen, auch wenn er selbst das Wort "Fiction" gar nicht mag: "Das klingt mir zu sehr nach Roman, ich mag das Wort Kino lieber." Manche seiner Bilder sehen auch aus wie Gemälde, was nicht nur daran liegt, dass er Kunstgeschichte studiert hat und früher selbst als Maler tätig war; andere wiederum haben den Charme eines Kammerspiels, sie sind aufwendig inszenierte Bühnenstücke, die sich in einem einzigen Bild verdichten. Und dann gibt es noch das große Gesellschaftsdrama, die Panoramabilder und Stadtlandschaften, in denen die Menschen wie Schauspieler ihrer selbst wirken.

Manchmal treibt es Wall bis zum Äußersten, etwa mit seinem Werk "An Eviction" (1988/2004), das in der Pinakothek der Moderne hängt. Es zeigt eine Straßenszene in Vancouver, eine trügerische Wohlstandsidylle, die Vorgärten sind gepflegt, Mittelklasseautos stehen vereinzelt am Straßenrand. Es geht um eine Zwangsräumung, einer der Vorstadtbewohner wird in seinem Vorgarten von Polizisten gewaltsam weggezerrt, doch die Nachbarn wirken komplett desinteressiert, sie schauen nicht hin. Ein großartiges Bild, eine Metapher für die soziale Gleichgültigkeit unserer Großstädte, fanden die Museumsmacher.

Der Künstler dagegen war unzufrieden: Nach zwölf Jahren forderte er sein Bild zurück, um es nachzubessern, was die Kuratoren nicht gerade mit Begeisterung aufnahmen. "Mir war da einfach nicht genug Leben", erzählt Wall. "Deshalb habe ich es digital bearbeitet und neue Figuren, neue Szenen eingefügt. Es ist jetzt eleganter, es hat mehr Bedeutung."

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In der digitalen Welt wirkt seine Haltung sonderbar altmeisterlich, aus der Zeit gefallen. 350 Millionen Fotos werden täglich auf Facebook geladen, eine ähnliche Größenordnung meldet die Instant-Messaging-Anwendung Snapchat, wo die Fotos von sehr privaten Situationen nur für kurze Zeit zu sehen sind, bevor sie sich selbst auflösen. "Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut", hat Henri Cartier-Bresson gesagt, aber das ist schon lange her.

Fotos sind inzwischen so flüchtig, so vergänglich, dass man sie kaum mehr greifen kann: Die digitale Bilderwelt gleicht einem Feuerwerk, das sich immer weiter ausdehnt und dadurch ständig schwächer wird.

Es hat etwas Rührendes, wie sich Wall gegen diesen Bilderrausch stemmt, indem er seine Produktion gezielt drosselt. Und er tut dies nicht nur aus Kalkül, um den Marktwert zu steigern. Manchmal braucht er eben Monate, sogar Jahre, bis er seine Filmkamera in Stellung bringen kann, um ein Motiv aufzunehmen, oft sind auch die Studio-Aufbauten sehr aufwendig.

Der Künstler mag es allerdings gar nicht, wenn man ihm Kontrollsucht unterstellt, die Besessenheit, seine Bilder bis ins kleinste Detail zu inszenieren, ähnlich wie der Regisseur Stanley Kubrick, der in seiner langen Karriere nur 13 Filme drehte. "Ein gutes Bild braucht immer auch ein Zufallsmoment. Man muss die Umstände akzeptieren", sagt Wall.

Das klingt erst mal merkwürdig, bei einem Perfektionisten wie ihm - aber er kann auch auf Fotos verweisen, für die er nur fünf Minuten gebraucht hat. "Clipped Branches" (1999) ist so ein Bild, das ganz spontan, im Vorübergehen, entstanden ist: Man sieht nur ein paar achtlos abgeschnittene Zweige am Straßenrand in Vancouver, "ein Stück brutal zugerichtete Natur", so der Künstler.

Für einen, der seit den Siebzigerjahren fotografiert, hat Jeff Wall ein sehr überschaubares Œuvre. 166 Werke hat er "freigegeben", wie er das etwas kokett nennt, dabei macht er für jedes seiner Motive eine Vielzahl von Entwürfen, bevor er sich für ein Bild entscheidet. 166 Werke, das ist so wenig, dass ihm jedes einzelne Bild vertraut ist - beim Wiedersehen in der Pinakothek trifft er auf lauter alte Bekannte, die er mal mehr und mal weniger mag.

In einem Saal hängt das Foto "The Smoker" (1986). Es zeigt seinen 17-jährigen Sohn zu Hause beim Rauchen, und er schaut so herausfordernd, so provozierend erwachsen, dass man geradezu erschrickt. Das Dokument einer Auflehnung? "Oh nein", lacht Wall, "wir hatten nur Ärger wegen des Rauchens, aber kein schlechtes Verhältnis. Wir haben unseren Disput dadurch gelöst, dass ich das Bild gemacht habe." Gegenüber leuchtet "A Fight on the Sidewalk" (1994), ein Mann beobachtet zwei Figuren am Boden, die ineinander verkeilt sind. Wenn es ein Kampf ist, dann sind die Kombattanten in diesem Moment völlig gleichwertig, für diese eine Sekunde steht alles still. Wall freut sich, dass sich der Betrachter noch immer wundert: "Könnte eine Liebesszene sein, nicht wahr?"

Es ist kein Zufall, dass Jeff Wall nach München zurückkehrt. Hier leben einige seiner treuesten Sammler. Ingvild Goetz, die schon früh seine Leuchtkästen entdeckte. Oder der Galerist Rüdiger Schöttle, der Jeff Wall gerade mit dem Düsseldorfer Andreas Gursky zusammenspannt - zwei Meister des extremen Großformats, wobei der Jüngere auf dem internationalen Kunstmarkt sein Vorbild Jeff Wall bei den Preisen deutlich übertrifft. Gurskys Foto "Rhein II" erzielte bei einer Auktion im November 2011 einen Rekordwert von 3,1 Millionen Euro. Walls "Band & Crowd" kostet 800.000 Euro, aber anders als in seiner Frühphase, als er nur Unikate herstellte, sind jetzt drei Abzüge erhältlich, und man braucht auch keinen Lampenvorrat mehr, die Ära des Leuchtkastens ist abgeschlossen.

So ganz mag Jeff Wall nicht mehr auf dem Diktat der Einmaligkeit beharren, auch wenn er noch immer seinen alten analogen Filmkameras vertraut, bevor er den Bildern am Computer den letzten Schliff gibt. "Ich selbst habe mich ja nie als Konzeptkünstler bezeichnet, das haben andere getan."

Der Münchner Verleger Lothar Schirmer muss lachen, wenn er daran denkt, wie er seinen Esel von Jeff Wall gekauft hat. "A Donkey in Blackpool" (1999) heißt das Bild. Der Fotograf selbst findet das Tier, das er bei einer Großtante seiner Frau im Stall an der englischen Küste ablichtete, noch immer sehr schön - so wie der Sammler. Lothar Schirmer hat Sinn für Humor, er nimmt den Kunstbetrieb mit seiner hochtrabenden Rhetorik nicht allzu ernst, er kann sich das leisten. Damals kosteten Jeff-Wall-Fotos dieses Formats zwischen 50.000 und 100.000 Dollar. "Letztlich ein Schnäppchen - ich gebe es jedenfalls nicht mehr her", sagt Schirmer. Das Werk hängt in seinem Schlafzimmer, das seitdem der "Zwei-Esel-Raum" heißt: "Der eine Esel liegt im Bett, der andere hängt an der Wand und frisst jede Menge Strom, wenn er eingeschaltet ist."

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Wie schön für den Künstler, wenn die Besitzer so zufrieden sind; aber der Esel ist ja auch eine erstklassige Wertanlage. Andere Werke seien dagegen weniger für den Hausgebrauch geeignet, die passten besser in eine öffentliche Sammlung, wo man ihnen nicht täglich begegnet. "Viele Fotos haben diese Dissonanz, ein Element der Beunruhigung. Aber ihr Deutschen seid ja so cool, ihr könnt das aushalten."

Jeff Wall kann sich auch vorstellen, dass sich die Besitzer seiner Leuchtkästen einfach einen schönen Abend machen. Indem sie das Bild eine halbe Stunde einschalten und dann ausknipsen. "Man sollte es genießen, wie man ein Glas Wein genießt."

© SZ vom 02.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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