Fotograf in Auschwitz:Viertel Sekunde, Blende 16

Der Mann, der im Vernichtungslager Auschwitz Tausende Gesichter fotografierte, lebt noch. Eine Begegnung mit dem heute 91-jährigen Wilhelm Brasse.

Kamilla Pfeffer

Rote Backsteinbauten, Nummern an jeder Eingangstür. Block 11, der Todesblock. Kalt ist es und dunkel, modrig die Luft. Ein karger Gang im ersten Stock. Am Ende ein Fenster, vergittert. Draußen: hellrot der Morgen. Haushohe Pappeln.

Fotograf in Auschwitz: Janina Bleiberg, Jüdin aus Polen, damals 16 Jahre alt, war vom 30. Mai 1942 an in Auschwitz. Sie hat das Lager überlebt.

Janina Bleiberg, Jüdin aus Polen, damals 16 Jahre alt, war vom 30. Mai 1942 an in Auschwitz. Sie hat das Lager überlebt.

(Foto: Foto: Museum Gedenkstätte Auschwitz)

Um Punkt sieben Uhr wird es hell in Block 11 im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz. Neonröhren im Flur. Nun starren zahllose Augenpaare aus fahlen Gesichtern. Die Wangen eingefallen, die Schädel kahl.

Es sind Porträts von Todgeweihten, in Zweierreihen übereinander. 18x24 cm groß. In diesem Gang sind es weit mehr als Hundert, alles Männer, alle aus Polen. So wurden Zehntausende Auschwitz-Häftlinge abgelichtet. Menschen aus Europa, auch Frauen und Kinder. Fast alle wurden sie fotografiert von einem Mann: von Wilhelm Brasse, dem Lagerfotografen.

Ihn gibt es noch.

Er ist 91 Jahre alt, und jetzt gerade sitzt er auf der Treppe vor seinem Haus. Ein altes Haus in Polen, am Rande einer schlesischen Kleinstadt gelegen, kaum 50 Kilometer vom ehemaligen KZ Auschwitz entfernt. Hinter ihm stehen ein ausrangierter Heizkörper, ein alter Strohbesen und ein paar schwarze Schuhe. In den Händen hält er einen braunen Umschlag. Ein paar Fotos sind darin.

Es ist windig. Hinein aber will der alte Mann nicht. Seit dem Tod seiner Frau im vergangenen Jahr lässt er nur ungern Besucher ins Haus. "Ich habe nicht richtig aufgeräumt seitdem", sagt Wilhelm Brasse. Lieber steigt er ins Taxi. Das Ziel - ein Restaurant im Zentrum. Brasse nippt an seinem Wasser.

Dann packt er Fotos aus: Drei Porträts von SS-Männern, ein Mädchen in gestreifter Häftlingskleidung, ein Bild von ihm selbst - ein gut aussehender junger Mann in Mantel und Hut, unbekümmert: "Da war ich 22, das ist kurz vor dem Krieg gemacht worden."

Ein paar Monate später, nach dem deutschen Überfall auf Polen, sollte er Deutscher werden - aber er weigerte sich: "Ich war Pole und wollte Pole bleiben." Das Leben wurde beschwerlich: "Die Deutschen schikanierten mich. Ich hatte Schwierigkeiten, überhaupt Essens- und Kleidungskarten zu bekommen."

Im Frühjahr 1940 will Brasse seine Heimat verlassen. Beim Versuch, die Grenze nach Ungarn zu passieren, wird er festgenommen. Bald darauf soll er abtransportiert werden. Mit unbekanntem Ziel, wie es heißt. Kurz vor Abfahrt des Zuges bekommt der Pole mit dem deutschen Namen noch eine Chance: "Ich sollte in der Wehrmacht kämpfen - dann würde ich freigelassen."

Auf der nächsten Seite: Wie Brasse nach Auschwitz kommt.

Fotograf in Auschwitz

Wieder lehnt Brasse ab. Am 31. August 1940 erreicht der Transport Auschwitz. Mit 400 anderen Häftlingen, unter ihnen eine Gruppe polnischer Priester, wird Brasse an der Rampe von SS-Hauptsturmführer Karl Fritzsch empfangen: "Das hier ist kein Sanatorium, ihr seid in einem deutschen Konzentrationslager. Ein Jude lebt hier eine Woche, die Pfaffen einen Monat, gewöhnliche Häftlinge drei Monate!"

Fotograf in Auschwitz: Der Auschwitz-Fotograf Wilhelm Brasse lebt heute kaum 50 Kilometer vom ehemaligen Vernichtungslager entfernt.

Der Auschwitz-Fotograf Wilhelm Brasse lebt heute kaum 50 Kilometer vom ehemaligen Vernichtungslager entfernt.

(Foto: Foto: K. Pfeffer)

"Genau so ist es gekommen", sagt Brasse, "die polnischen Geistlichen wurden sofort im Straßenbau eingesetzt, wo sie tonnenschwere Walzen ziehen mussten. Nach vier Wochen waren alle tot. Viele Juden wurden von den Kapos schon vorher bei der Arbeit zu Tode geprügelt."

Auch Brasse wird dem Straßenbaukommando zugeteilt. Keine 14 Tage hält er das aus und wechselt zum Leichenträgerkommando. Dann hat er Glück, er kann Deutsch, also landet er beim Fundamentbau als Dolmetscher. "Dort gab es einen guten deutschen Kapo. Markus hieß der. Ich dachte: Der brüllt nicht, schlägt nicht, zeigt ja nur", sagt Brasse.

Vier Wochen später ist Markus verschwunden. Brasse findet ihn in der Lagerküche: "Bin jetzt Kapo in der Kartoffelschälerei - kannst bei mir arbeiten." Der neue Arbeitsplatz ist im Winter warm, und zu essen gibt es auch. Noch heute spricht Brasse vom "Paradieskommando".

Monate später, im Februar 1941, wird er zu einem SS-Mann bestellt: "Verstehst du was vom Fotografieren?" Für Häftling 3444 ist das die Glücksfrage. Brasse hat Fotograf gelernt in einem Porträtstudio in Kattowitz. Er wird dem Erkennungsdienstkommando in Block 26 zugeteilt. Etwa ein Dutzend Häftlinge arbeiten hier - Fotografen, Laboranten, Retuscheure, Maler, Graphiker, Schreiber. Brasses neuer Vorgesetzter ist SS-Hauptscharführer Bernhard Walter. Seine Aufgabe: Häftlinge fotografieren, und zwar im Akkord.

Das Studio ist ein langer großer Raum. Dahinter zwei Dunkelkammern. Zur Ausstattung gehören: zwei 500-Watt-Lampen mit Schirm, Zellophanpapier, ein kleiner Reflektor und ein verstellbarer Drehstuhl mit sichelförmiger Kopfstütze.

"Fotografiert habe ich mit einer großformatigen Holzkamera", sagt Brasse, die Marke weiß er nicht mehr. "Das Objektiv war ein sehr scharf zeichnendes von Zeiss Ikon, Lichtstärke 1:2. Belichtet wurde eine viertel Sekunde mit Blende 16."

Er darf nur unversehrte Gesichter fotografieren

Brasse fotografiert täglich bis zu 100 Häftlinge. Jeden dreifach: frontal, mit Blick zum Objektiv. Dann, mit Mütze, den Kopf nach rechts gedreht. Und im Profil, den Abstandshalter sichtbar am Hinterkopf. Alle drei Aufnahmen nebeneinander, auf dasselbe Negativ.

"Der Schreiber vom Erkennungsdienst hatte die Listen mit den Namen der Neuen. Sie mussten alle zu mir kommen. Im Studio warteten dann immer zwanzig oder dreißig Häftlinge, in einer Reihe aufgestellt." Brasses Kommandos sind knapp: "Mütze absetzen, geradeaus schauen, direkt zum Objektiv. Jetzt Mütze aufsetzen. Hier rüberschauen. Ruhig sitzen. Und jetzt seitlich. Weg."

Nur unversehrte Gesichter darf er aufnehmen. Verletzungen und Spuren von Misshandlungen sollen nicht verewigt werden - die SS hat Skrupel. Die Abzüge werden an eine Karteikarte geheftet, darauf Name und Nummer, Geburtsdaten und Herkunftsort.

Drei bis vier Minuten Zeit hat Brasse pro Häftling. Bei Sonderfällen muss es schneller gehen: "Einmal kam Walter zu mir und kündigte an, es werde ein Transport aus Frankreich kommen, mit tausendeinhundert Menschen. Eine Nacht und bis zum nächsten Mittag war Zeit, sie alle abzulichten." Im Sommer '41 muss das gewesen sein, ganz genau weiß Brasse es nicht mehr. "Die meisten waren Juden. Nach zwei Wochen waren alle tot."

Wie verkraftet man eine solche Arbeit?

"Ich habe versucht, nicht oft darüber nachzudenken."

Funktionierte das?

"D as kann man nicht so wegschieben."

Hat er die vielen Gesichter damals bewusst wahrgenommen?

"Ich wollte es nicht, aber oft haben sie so erschrocken geguckt, ich habe die Angst in ihren Augen gesehen."

Hat er mit ihnen gesprochen?

"Manchmal hab' ich versucht, sie zu beruhigen. Hier wirst du nicht geschlagen, dir wird nichts geschehen."

Wusste er, was den Häftlingen bevorstand?

"Natürlich, ich habe ja ständig Leichentransporte im Lager gesehen. Bei den Juden war mir klar, dass sie ermordet werden, bei anderen hatte ich noch ein bisschen Hoffnung."

Hat er ihnen gesagt, was sie erwartet?

"Ich konnte doch nicht so unmenschlich sein und ihnen das erzählen", sagt Brasse leise. Und dann: "Sie haben ja auch nie gefragt."

Auf der nächsten Seite: Brasse muss ehemalige Nachbarn fotografieren.

Fotograf in Auschwitz

Im Sommer 1941 muss Brasse ehemalige Nachbarn aus seiner Heimatstadt fotografieren, auch sie Juden. Mit ihnen war er groß geworden. Der Fotograf ahnt, dass sie hier im Lager nicht mehr lange leben werden, er kennt den Kapo ihrer Gruppe: "Der war ein brutaler Mörder." Brasse stockt, senkt den Kopf: "Sie können es glauben oder nicht, aber ich sprach ihn an. Ich sagte: Wenn du diese Juden schon tötest, dann töte sie so, dass sie nicht lange leiden." Am nächsten Tag sind sie tot.

Zwischen vierzig- und fünfzigtausend Häftlinge hat Wilhelm Brasse in Auschwitz fotografiert, so seine Schätzung. Wohl kein zweiter Mensch hat je so vielen Todgeweihten ins Gesicht gesehen.

Im Juli 1943 werden die erkennungsdienstlichen Aufnahmen der Häftlinge auf Befehl des Reichssicherheitshauptamtes in Berlin weitgehend eingestellt. Grund ist der Mangel an Fotomaterial. Nur noch deutsche Gefangene werden bis Januar 1945 fotografiert. Allen anderen wird lediglich eine Nummer auf den linken Unterarm tätowiert.

Doch Brasse hat nicht nur Häftlinge porträtiert, auch SS-Männer: "Mehrere Hundert insgesamt, sie brauchten Bilder für die Lagerausweise und für ihre Frauen." Die Fotos, die Brasse heute im Umschlag dabei hat, zeigen drei der Schlimmsten: die Lagerkommandanten Liebehenschel und Baer sowie den Untersturmführer Grabner, Leiter der Gestapo in Auschwitz.

"Setzen Sie sich bequem hin, entspannen Sie sich, denken Sie an Ihr Vaterland", sagt Brasse damals zu SS-Mann Grabner - und ist erfolgreich. Das Foto zeigt einen milde lächelnden Mann, mit schütterem Haar und makelloser Haut. Nach dem Krieg wird Grabner wegen Mordes in mindestens 25 000 Fällen zum Tode verurteilt und gehängt.

Faltenfrei sind sie alle, die kleinen und großen Täter, die Brasse fotografiert. Denn für ihre Lichtbilder schafft er neue technische Voraussetzungen: "Hauptscharführer Walter organisierte mir ein Retuschepult, Pinsel und weiche Bleistifte, damit die Negative retuschiert werden konnten." Brasse selbst baut ein neues Objektiv, das weich zeichnet. Dafür verwendet er ein Monokelglas aus dem Krankenbau.

Brasses Bilder gefallen, die SS-Leute sind angetan. Auch jener junge Offizier, den er als besonders freundlich in Erinnerung hat. Von ihm bekommt der Fotograf zwischen Herbst '43 und Sommer '44 regelmäßig Sonderaufträge. Zunächst sind es Gruppen junger Jüdinnen, die im Turnus von zwei Wochen ins Studio gebracht werden. Von ihnen soll er Ganzkörperfotos machen: von vorne, im Profil und von hinten. Die Frauen sind nackt.

"Für mich waren das sehr peinliche Situationen." Brasse vermeidet es, sie anzusprechen, selbst sie anzuschauen geniert ihn. Nur einmal ist es anders: "Ich erinnere mich bis heute, es war eine griechische Jüdin aus Athen. Sie war wunderschön. Ich war beeindruckt als Mann und als Fotograf." Mit ihr hat er gesprochen. Aber was für ein Gespräch konnte das sein? "Es war nur schrecklich, ich wusste ja, dass sie sterben würde."

Lob von Josef Mengele

Brasses freundlicher Auftraggeber ist der Lagerarzt Josef Mengele, im Lager bekannt als der Todesengel: "Mit mir hat er höflich gesprochen, nicht wie mit anderen Häftlingen. Meine Aufnahmen lobte er als fachmännisch."

Zur fotografischen Dokumentation schickt ihm Mengele auch Zwillinge und Drillinge. Dann jüdische Geschwister aus Ungarn, mit normal entwickeltem Rumpf, aber zu kurzen Armen und Beinen, Zwerge. Zigeuner mit zerfressenem Kieferknochen, Fälle von Wasserkrebs. Wofür der fanatische Rassentheoretiker immer wieder neue Aufnahmen ordert, erfährt Brasse erst nach dem Krieg.

Heute sind fast alle diese Fotos verschwunden. Geblieben ist eine Aufnahme, die zu einem Symbol für Auschwitz wurde: Sie zeigt vier nackte, bis auf die Knochen abgemagerte Mädchen. Mit streichholzdünnen Beinen und Stoppelhaaren, aneinandergedrängt, in einer Reihe.

"Wahrscheinlich sind es ungarische Mädchen gewesen", sagt Wilhelm Brasse, "sie waren vor Schreck wie gelähmt. Habt keine Angst, hab' ich gesagt, und ich hab' ihnen etwas Brot gegeben. Ich hab' mich sehr geschämt."

Hat er je eine Aufnahme verweigert?

"Nein, das ging nicht, ich hätte dann einfach erschossen werden können!"

Die Angst befähigt Brasse damals, noch obszönere Situationen festzuhalten. Etwa ein Dutzend Mal fotografiert er im Auftrag von Standortarzt Dr. Wirths und Frauenarzt Dr. Clauberg. Dafür muss der Fotograf mit seiner Kamera in Block 10 erscheinen, einem isolierten Bau, belegt mit ausschließlich weiblichen Häftlingen. "Kaninchen" nennt man sie im Lagerjargon. An ihnen werden medizinische Versuche unternommen, vor allem Sterilisationen.

Ausführender Arzt ist ein jüdischer Häftling, Prof. Dr. Maximilian Samuel aus Köln. Brasse hat bis heute nicht eine Sekunde der Sterilisationen, denen er beiwohnen musste, vergessen können. Seine Aufgabe unmittelbar nach der OP: Licht setzen und Großaufnahmen von der Gebärmutter in Schwarzweiß, manchmal in Farbe. "Dr. Samuel erklärte mir, dunkle Flecken auf der Gebärmutter würden Wirths besonders interessieren. Angeblich waren das Krebsuntersuchungen."

Brasse senkt den Kopf, knetet seine Hände, fährt sich über das Gesicht. Es dauert ein paar Minuten, dann zieht er aus der Innentasche ein vergilbtes Foto. Darauf: ein Mann, eine Frau, etwa Mitte dreißig - und ein vielleicht zweijähriges Kind. Eine Familienidylle.

"Rudi war der Einzige, der jemals in Auschwitz heiraten durfte, er war mein Freund", sagt Brasse - "das ist sein Hochzeitsfoto." Das Bild zeigt den Häftling Rudolf Friemel in Anzug und Krawatte. Daneben die Spanierin Margarita Ferrer, nur für Trauung und Hochzeitsnacht zu Gast im Lager. Dazwischen der gemeinsame Sohn. Rudi hatte in Spanien bei den Internationalen Brigaden gekämpft. Er landete als Kommunist in Auschwitz. "Mich hat er mit Zigaretten versorgt."

Friemel hat einen guten Stand im Lager, nicht nur bei den Häftlingen. Als "Garagenkapo" ist der Kfz-Mechaniker für die SS wichtig. "Rudis Familie, vor allem sein Vater hat sich lange darum bemüht, dass er im Lager heiraten durfte", erzählt Brasse.

Die Trauung findet im Standesamt von Auschwitz statt, wo sonst nur Totenscheine ausgestellt werden. Das Hochzeitsfoto wird in den Räumen des Erkennungsdienstes aufgenommen, wo normalerweise die Häftlingsfotos entstehen. Auch dieses Bild: von Brasse fotografiert. Eine absurde Geschichte - eine Propaganda-Idee der SS?

"Ich weiß nicht, ich weiß es bis heute nicht. Damals konnten wir es überhaupt nicht glauben. Erst nach dem Krieg habe ich erfahren, dass Heinrich Himmler persönlich die Heirat genehmigt hatte, aber warum?" Am 30. Dezember 1944, vier Wochen vor der Befreiung des Lagers durch die Rote Armee, wird Rudolf Friemel nach einem gescheiterten Fluchtversuch zusammen mit vier Kameraden ermordet. Die vier in Unterwäsche und barfuß, Rudi in seinem weißen, mit Rosen bestickten Hochzeitshemd. Gehängt um fünf Uhr nachmittags beim Appell. Vor den Augen aller Häftlinge - auch Brasse muss zusehen. Wieder nippt der alte Mann an seinem Glas. Die Augen sind feucht. Dann sagt er: "Ich habe Glück gehabt."

Im Januar 1945, wenige Tage bevor die sowjetischen Truppen Auschwitz erreichen, riskiert Brasse sein Leben und widersetzt sich. SS-Hauptscharführer Walter will verhindern, dass die Fotos dem Feind in die Hände fallen: "Er verlangte, dass wir alle Negative und Abzüge verbrennen. Ich hab' einige Pakete in den Ofen gesteckt." Kaum hat der SS-Mann den Raum verlassen, zieht er die Bilddokumente wieder 'raus und löscht sie mit Wasser. Die Papierabzüge sind angekokelt, die Negative aber weitgehend unversehrt, sie sind aus unbrennbarem Material.

Die Rettungsaktion bleibt von der SS unbemerkt. Nach der Befreiung werden 38916 erkennungsdienstliche Fotos gefunden, 31969 von männlichen und 6947 von weiblichen Häftlingen.

Warum hat er dieses Risiko auf sich genommen? "Ich wollte, dass man nachher weiß, was im Lager passiert ist. Ich wusste, dass die Fotos Dokumente waren, über Leben und Tod. Und ich konnte ja nicht sicher sein, dass ich überlebe."

Wilhelm Brasse wird mit dem letzten Transport, am 21. Januar 1945, ins KZ Mauthausen deportiert. Dort geht es ihm schlechter als in Auschwitz: "Es waren schreckliche Zustände, fast wäre ich verhungert. Gott hab' ich verflucht und meine Mutter, dass sie mich geboren hat. Bis heute bin ich ein zweifelnder Katholik, gläubig, aber zweifelnd."

Von den Amerikanern wird er am 5.Mai 1945 befreit. Noch im selben Jahr lernt er seine Frau Stanislawa kennen. Sie ist sein großes Glück, 63 Jahre lang, bis 2008. Über die Erlebnisse im Lager hat er mit ihr nie gesprochen. Mit ihr war so etwas wie Alltag möglich.

"1948 oder 1949 habe ich noch mal versucht, als Porträtfotograf zu arbeiten. Aber das ging nicht mehr. Immer wenn ich durch den Sucher sah, tauchten die nackten jüdischen Mädchen auf."

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