Folgen der Urbanisierung:Stadt Land Fluch

Irgendwann in den nächsten Monaten werden zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in den Städten leben als auf dem Land. Doch nicht nur die Mega-Citys wachsen ins Gigantische - auch die Ängste, Kontrollsysteme und Unfreiheiten.

GERHARD MATZIG

Einer der phantastischen Comics von François Schuiten und Benoit Peeters trägt den Titel "Das Fieber des Stadtplaners". Darin geht es um einen "Urbitekten". Eines Tages entdeckt er einen rätselhaften Kubus auf seinem Tisch - eine "einfache, völlig leere Würfelstruktur, deren Kanten nicht länger als fünfzehn Zentimeter sind". Nur: Das Objekt ist unzerstörbar und wächst unaufhaltsam. Jedem Würfeleck erwächst ein neues Würfeleck.

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So frisst sich die Gitterstruktur erst durch des Urbitekten Büro, dann durch das Stadtviertel - bis schließlich die ganze Stadt nur noch aus einem gespenstischen, orthogonal wuchernden Mysterium besteht. Man schießt mit Kanonen auf die monströse Würfel-Hydra - vergeblich.

Es gibt Flüchtlinge und Tote, zerstörte Häuser und kaputte Biografien, es kommt zu Plünderungen, Ausschreitungen und beinahe zur Anarchie. Die Stadt verarmt, wird depressiv und scheint auf bestem Wege, sich in ein infernalisches Ghetto dunkler Gesetzlosigkeit zu verwandeln. Die Stadt und ihre Bewohner also als Opfer stadtplanerischer Fieberträume und architektonischer Geometrievisionen?

In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind unzählige Schriften zum Thema "Stadtwachstum" erschienen. Auch Literatur, Kunst und Kino haben sich spätestens seit der Moderne mit jenem einst nur theoretisch bestimmbaren Phänomen beschäftigt, das erst in unserer unmittelbaren Gegenwart praktische Realität wird: Der Zeitpunkt ist erreicht, da, weltweit betrachtet, mehr Menschen in Stadtgebilden als in ländlicher Umgebung leben. Die Stadt hat im Evolutionsprozess zivilisatorischer Raumorganisation endgültig obsiegt.

Der Vorgang des Kippens zugunsten einer städtisch definierten Weltgesellschaft dürfte unumkehrbar sein. Die Städte wachsen sich also - rätselhaften, comichaft simplifizierten Würfelformen ähnlich - auf globaler Ebene genau so lange zu immer größeren Gebilden aus, solange die Weltbevölkerung wächst.

Schrumpfende Städte, wie wir sie aus Ostdeutschland schon länger kennen (und wohl auch in Teilen Westdeutschlands zu erwarten haben), spielen im Zuge der Stadtwerdung der Welt und angesichts gewaltiger Land-Stadt-Mobilitäten etwa in asiatischen oder südamerikanischen Boomräumen in den entsprechenden UN-Analysen denn auch keine Rolle. Die Bevölkerung der westlichen Länder stagniert oder schrumpft - die Welt aber wächst.

Und mit ihr türmen sich an vielen Orten gigantische räumliche Agglomerationen von babelhafter Zeichenhaftigkeit auf: Mega-Citys, Millionen- und Abermillionenstädte.

Die architektonischen und stadträumlichen Entwicklungen dieser Städte samt aller soziologischen, ökologischen und ökonomischen (und: naturgemäß höchst problematischen) Implikationen werden von den Urbanisten schon seit langem mit großer Sorge beobachtet. Aber nirgendwo wurde das entscheidende Motiv auf der rezeptiven Seite städtischer Evolution so präzise illustriert wie im "Fieber des Stadtplaners": Es ist die schiere Angst, der reine Horror, der derzeit die Diskussion um die Zukunft der Städte bestimmt.

Umfragen zufolge verbinden die meisten Menschen - in ganz allgemeiner Weise - mit dem Begriff der Stadt Negatives: Kriminalität (Attacken von Mensch zu Mensch), Terror (Attacken gegen die Stadt) und Umweltzerstörung (durch die Stadt selbst); dazu auch Einsamkeit und das übliche Zubehör derselben: einen grauen Himmel, Betonwände, wenig Grün. Die Angst vor der Stadt besteht also einerseits wohl zu Recht. Andererseits speist sie sich aus Klischee-Vorstellungen. Manhattan zum Beispiel ist aufgrund der vorbildlich öffentlichen Verkehrsinfrastruktur die ökologisch viel unbedenklichere Stadt als zum Beispiel Starnberg.

Richtig ist natürlich: Nur Städte dienen der terroristischen Abart kriegerischer Auseinandersetzungen als Ziel.

Denn der Terror braucht die Masse ebenso wie die Anonymität - zwei konstituierende Elemente der Stadt.

Was aber die "gewöhnliche" Kriminalität angeht: Im New York des Jahres 1993 wurden 1927 Morde verzeichnet, zehn Jahre später waren es nur noch 598 Morde; 1993 wurden 85892 Raub-Delikte gezählt - zehn Jahre später nur noch 25919. Der Grund für diese erstaunlichen Rückgänge, so der Hamburger Senator Udo Nagel anlässlich der Veranstaltungsreihe "Stadt und Gewalt" der Bayerischen Architektenkammer: Kontrolle.

Innerhalb der letzten zehn Jahre hat New York die Polizeipräsenz entsprechend intensiviert.

Solche Zahlen lassen aufhorchen, denn sie stützen die These, wonach dem fettsüchtigen Moloch Stadt, wie er in den künstlerischen Fiktionen erdacht und durch manche Polizeiberichte illustriert wird, in Zukunft nur durch Kontrolle und Überwachung beizukommen ist. Schon jetzt sind in den Städten die Videokameras omnipräsent.

Nun führt aber Michel Foucaults bekanntestes Buch "Überwachen und Strafen" wohl nicht umsonst den Untertitel "Die Geburt des Gefängnisses". Und jenes Getriebe, das aus der Stadt eine gewaltige Integrationsmaschine, eine Zugmaschine im Dienste der politischen Kultur zu machen imstande wäre, bedarf vor allem der Freiheit.

Es überrascht nicht, dass genau dazwischen, zwischen der Freiheit und dem Gefängnis, die Zukunft der Stadtgesellschaft aufscheint.

Die Veranstaltungsreihe der Bayerischen Architektenkammer, München, wird am 24. Februar mit einem Abend zu "Gewalt und Raum" beschlossen. Eine Ausstellung begleitet die Reihe.

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