Fluchtland Eritrea:Asmara - die verschwiegene Stadt

Die eritreische Hauptstadt hat alles, was eine Metropole lebenswert macht: sanftes Klima, Art déco, vier Kinos. Warum also fliehen die Menschen? Eine Recherche.

Reportage von Alex Rühle

Auf den ersten Blick ist alles zauberhaft und poetisch. Sanftes Klima, meist um die 25 Grad. Die Luft ist hier oben auf 2500 Metern besser als in manchem europäischen Kurort, der Himmel so blau und so nah, als hätte ihn jemand dick mit Fingerfarben über die Stadt gemalt. Und wenn abends die Kumuluswolken vom Horizont heranquellen, sieht das aus, als würde sich ganz Asmara mit einem leuchtend weißen Federbett zudecken.

Das Essen ist köstlich, in den Cafés gibt es italienischen Macchiato. Außerdem ist Asmara so sicher, dass man selbst nachts alleine herumlaufen kann. Und dann diese Häuser! Keine Ahnung, warum all die Architekturnostalgiker ihre Zeit in Havanna verplempern, das hier ist das wahre Dorado moderner Baukunst: Art déco, Neo-Klassizismus, Novecento, faschistisch geprägte Moderne, alles durcheinander, alles so erhalten, wie es zwischen 1930 und 1941 von den Italienern hingestellt worden ist.

Es gibt diesen Witz vom Flüchtling, der aus Europa eine erste Mail an die Eltern schickt: "Überfahrt überlebt, Grüße aus Rom. Erstaunlich, die haben hier versucht, unsere Stadt nachzubauen."

Als würde das Gebäude abheben in Richtung Sonnenaufgang

Zu Mussolinis Zeiten galt Asmara als "Roma piccola" und "Zukunft in Aktion". Viele Architekten, die gewagte Projekte nicht in Rom ausprobieren durften, bauten sie dann eben hier: Beispielhaft sei nur die Tagliero-Tankstelle genannt, ein Gebäude wie ein Flugzeug, rechts und links weite, frei schwebende Flachdachflügel. Als würde das Gebäude abheben in Richtung Sonnenaufgang, wir können jetzt alles.

Als die Italiener 1941 hundert Kilometer nordwestlich gegen die Briten die Schlacht von Keren verloren und Eritrea unter britisches UN-Mandat gestellt wurde, gab es in Asmara mehr Ampeln als in Rom. Heute ist Asmara wahrscheinlich die einzige Hauptstadt der Welt ohne eine einzige funktionierende Ampel. Andererseits gibt es sowieso kaum Verkehr. Und die paar Autos kriechen so vorsichtig durch die Straßen, als wollten die Fahrer ihrem Motor das Benzin tropfenweise einflößen: Ein Liter Benzin kostet drei Euro. Die Leute verdienen zwischen 50 und 200 Euro im Monat.

Der Präsident versprach eine Mischung aus Kommunismus und Singapur - er schuf eine Diktatur

Und haben außerdem gerade all ihr Erspartes abgeben müssen: Im Januar ließ Präsident Isayas Afewerki neue Banknoten in Umlauf bringen und versprach, das alte Geld eins zu eins umzutauschen. Nur geben die Banken seither jedem höchstens 5000 Nakfa monatlich, rund 320 Euro. Fragt sich, wie man davon leben soll.

"Gar nicht", sagt Birhane. Er steht im Schatten eines Baums, gegenüber dem Café Zilli, das mit seinen Bullaugen einem Dampfer nachempfunden wurde, und starrt auf die leere Kreuzung. Das ganze Gespräch über steht er reglos unter diesem Baum, aber seine Augen suchen unruhig den Platz ab. Es wirkt, als fließe eine Menge Strom durch seine tieferen Leitungen.

Birhane ist Mitte 50, lebt in Europa und heißt in Wahrheit anders. Er ist zu Besuch hier, die Stadt füllt sich gerade, so wie jedes Jahr im Frühjahr. Am 24. Mai sind die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag. "Dabei ist das inzwischen für uns alle kein Feier-, sondern ein Trauertag", sagt er. "Sie klingen nicht wie ein Fan der Regierung. Sind Sie aus Eritrea abgehauen?" - "Ja." - Und da können Sie auf Besuch kommen?" - "Klar. Hab unterschrieben und bezahlt."

Profiteure des Heimwehs

Viele Flüchtlinge dürfen nach drei Jahren Karenzzeit wiederkommen - unter zwei Bedingungen: Man muss ein Schreiben unterzeichnen, in dem man versichert, dass es einem wahnsinnig leidtut, geflohen zu sein. Wichtiger ist aber das Geld: Die Regierung versucht, von allen Ausgewanderten eine "Aufbausteuer" von zwei Prozent des Einkommens einzutreiben.

Früher haben die Eritreer in Europa dieses Geld auf ihrem jeweiligen Konsulat abgegeben. 2011 mussten die eritreischen Diplomaten diese Praxis auf Druck der EU beenden. Nur wurde damit die Steuer nicht abgeschafft. Birhane zuckt mit den Schultern. "Jetzt bringen wir das Geld mit und liefern es beim Besuch bei irgendeiner Behörde ab." Er hatte diesmal auch das Geld für einen Freund dabei, der eine Geburtsurkunde braucht. "Hm, aber Sie sind doch geflohen und jetzt . . ." - " . . . finanziere ich dem Menschen, den ich am meisten hasse, sein Regime", unterbricht Birhane. "Ich weiß, es ist furchtbar. Afewerki lebt von unser aller Heimweh."

"Alles leer, alles Kulisse"

Man sollte dazusagen, dass es nicht ganz so leicht ist, wie Birhane sagt, viele oppositionelle Flüchtlinge würden schnurstracks ins Gefängnis wandern, wenn sie wiederkommen. Und viele Exileritreer sagen, sie würden nie im Leben dieses Geld zahlen.

Birhane hat sieben Geschwister, sie leben in Äthiopien, Schweden, den USA. Solche Geschichten hört man hier oft. Birhane zeigt mit einer weiten Geste auf die alten Fassaden. Viele Fenster haben schwere Lider, die Rollos sind halb hochgezogen, als dämmerten die Häuser durch die Mittagshitze und träumten von der zwar auch nicht guten, aber alten Zeit, als noch nicht 5000 Menschen im Monat das Land verlassen haben. "Alles leer", sagt er, "alles Kulisse." "Und was haben Sie jetzt auf dieser Kreuzung gesucht?" - "Das Denkmal."

Er meint das Shida-Denkmal, ein Paar schlichte, schwarze Sandalen, sieben Meter groß. Diese Schuhe trugen alle Soldaten und Soldatinnen im dreißigjährigen Unabhängigkeitskrieg gegen Äthiopien. Sie wurden in einer unterirdischen Fabrik aus alten Autoreifen hergestellt. Das war billig, gerissene Riemen konnte man reparieren, indem man sie mit einem Feuerzeug schmolz und wieder anklebte. Das Denkmal wurde 2001, zum zehnten Geburtstag des freien States Eritrea, eingeweiht. Jetzt ist es weg. Und keiner weiß, warum.

So etwas wie das Tibet von Afrika

Plötzlich steht ein kleiner alter Mann neben uns und reckt seine rechte Hand hoch, an der zwei Finger fehlen. Birhanes Blick flackert panisch hin und her, dann verschwindet er in einer Seitenstraße. Den Alten scheint das nicht zu stören. Er schwärmt, der Unabhängigkeitskrieg gegen das übermächtige, von den Russen und den USA unterstützte Äthiopien habe "alle Eritreer gleich gemacht". Die unterirdischen Krankenhäuser und Schulen! Die Bildungsprogramme für die Nomaden! Die Heiraten, mitten im Krieg, zwischen Christen und Muslimen, im Namen einer gemeinsamen Identität!

Anfang der Neunzigerjahre, direkt nach der Unabhängigkeit, war Eritrea imagetechnisch so etwas wie das Tibet von Afrika, was für ein heroischer Sieg, hier gab es für alle Afrophilen die andere, helle Geschichte, hier waren keine Kleptokraten am Werk, alle gemeinsam wollten ein freies Land aufbauen, Präsident Afewerki versprach eine Mischung aus Kommunismus und Singapur und lief in seinen alten Kriegssandalen durch die Straßen.

Asmara, Eritrea

Geld für die Instandhaltung der Häuser fehlt fast überall.

(Foto: Jenny Vaughan/AFP)

"Leider hat er sie nie mehr ausgezogen", sagt Tesfai, ein junger Mann, der eine Ladenwerkstatt betreibt und den alten Verkaufstresen mit einem genauso alten Lappen putzt. "Für ihn und seine Entourage war die Front Schule, Universität, Familie und Arbeit in einem. Sie sind nie mehr aus dem Kriegsmodus herausgekommen."

Ständig auf der Hut

Neben Tesfai sitzt ein stiller, sehr schlanker Mann, der sich irgendwann leise murmelnd verabschiedet und um die Ecke verschwindet. Tesfai putzt einfach weiter und nickt mit dem Kinn dem verschwundenen Freund hinterher: "Der bereitet gerade seine Flucht vor." - "Oh? Sudan oder Äthiopien?" - "Weder noch. Hier in Asmara. Er ist beim Militär, im Süden. Jetzt durfte er für drei Wochen kommen, um seine kranke Mutter zu besuchen. Aber er wird morgen untertauchen. Er hat das schon mal drei Jahre lang geschafft." - "Und dann versteckt er sich in einem Keller?" - "Nein, er geht schon raus. Aber ist permanent auf der Hut. Sonnenbrille, Baseballkappe, solche Sachen. Alle sechs Monate schickt das Militär Trupps, die all die Entlaufenen wieder zusammenholen."

Bei Tesfai klingt das nach einem harmlosen Folkloreritual, gleichzeitig putzt er stumm den Tresen, als wolle er alle Fingerabdrücke seines Freundes beseitigen.

Keine Verfassung, keine Pässe, keine Gerichte, keine Presse

Zu Beginn der Unabhängigkeit erschien es völlig logisch, einen allgemeinen "National Service" einzuführen, eine Mischung aus Militär und Zivildienst als Dienst am neu erkämpften Vaterland. Man musste schließlich alles neu aufbauen. 1997 legte eine Kommission dem Präsidenten nach zweijähriger Arbeit einen Verfassungsentwurf vor. Der nahm das Konvolut huldvoll entgegen, um es danach nie wieder zu erwähnen. Kurz darauf brach ein neuer Krieg gegen Äthiopien aus, der Afewerki sehr zupass kam, zwei Jahre Zerstörung waren die Folge. Und es war klar: Für eine Verfassung oder freie Wahlen ist jetzt nicht die Zeit. Leider gibt es bis heute keine Verfassung. Keine Pässe. Keine Gerichte. Keine Presse. Stattdessen einen zeitlich entgrenzten Militärdienst. Und Gefängnisse.

Erdlöcher als Gefängnisse

Tesfai formt mit der linken Hand eine Schale, als er sagt: "Als mein Freund beim ersten Mal wieder eingefangen wurde, haben sie ihn in eines dieser Löcher geworfen. Das sind keine richtigen Gefängnisse, sondern Erdlöcher, draußen vor der Stadt." Er schlägt das Putztuch auf die kleine Höhlung, als wolle er ein Insekt fangen. "Stockdunkel. Da drinnen vegetieren die. Schlimmer sind nur die Schiffscontainer in der Wüste. Da wirst du gekocht."

Die prominentesten Gefängnisinsassen sind die sogenannten G 15: fünfzehn ehemalige Kampfgefährten, darunter fünf Minister, die 2001 öffentlich Reformen forderten. Afewerki versprach zunächst, darauf einzugehen. Dann schlug er zu: Sieben Tage nach dem 11. September, am 18. September 2001, die Welt starrte noch immer auf New York, ließ er alle Kritiker einsperren, die Zeitungen schließen und verkündete, dass sich 2002 die letzten Studenten einschreiben dürften.

Vier Jahre später wurde dann die Universität geschlossen. So viel also zur schönsten Stadt Afrikas, mit ihren italienischen Cafés und all den pittoresken Gebäuden. Sogar die vier mondänen Kinos gibt es noch! Ein Freund sagte, dort würden eritreische Filme gezeigt werden, all die Soaps, die sie Jahr um Jahr produzieren und die nahezu ausnahmslos während des Bürgerkriegs spielen. Alle Kinos kündigen aber auf ihren handgeschriebene Zetteln, die es hier statt Plakaten gibt, amerikanische Blockbuster an oder europäische Fußballspiele.

Ein Wort schwebt durch alle Straßen

Frage an einen der Café-Betreiber in einem der holzvertäfelten Kino-Foyers: "Kann man hier eritreische Filme sehen?" - "Normalerweise schon." - "Aber?" - "Seit Januar nicht mehr." - "Warum?" - "Die eritreischen Filmfirmen können die Saalmiete nicht mehr zahlen seit der Währungsreform."

Großartig! Jetzt kann aufgrund der neuesten Entscheidung Afewerkis nicht mehr Afewerkis eigene Propaganda gezeigt werden. Vielleicht frisst die Revolution auch hier, pünktlich zum 25. Jahrestag, gerade ihre Kinder. Das eine Wort jedenfalls, das momentan durch alle Cafés und Straßen Asmaras schwebt, deutet daraufhin, dass bald was passiert: "Change!"

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