Fingierte Berichte bei der "New York Times":Zu gut

Das "Gewissen der Welt" hat selbst ein schlechtes Gewissen: Einer ihrer Reporter hat ihnen Jahre lang falsche Geschichten angedreht.

WILLI WINKLER

In einem Film wäre er der Held. Ein Gauner zwar, aber ein Held. Jayson Blair gelang es über Jahre, die große New York Times zu überlisten. Der heute 27-Jährige begann 1999 als Praktikant, fiel durch sein geselliges Wesen auf und vor allem seine Bereitschaft, die Artikel der Kollegen zu loben. "Ich habe Menschen erlebt, die die Macht missbraucht haben, die ihnen verliehen war", schrieb er in seiner Bewerbung.

Das klang so idealistisch, wie man es von Film-Reportern gern hört. "Meine Sympathie gehört jenen, die Journalisten wurden, weil sie anderen helfen wollten."

Blair wollte sich helfen und schadete damit seiner Zeitung. Der Reporter arbeitete schlampig, machte fehlerhafte Angaben, zitierte ungenau, schrieb einmal sogar den Namen des Times-Verlegers Arthur Ochs Sulzberger Jr. falsch.

Seinem Vorgesetzten kamen bereits vor einem Jahr Bedenken. Er schrieb eine e-mail an die eigene Nachrichtenredaktion: "Wir dürfen Jayson nicht mehr für die Times schreiben lassen." Blair schrieb weiter.Erst nach mehreren Plagiatsvorwürfen wurde der Reporter einbestellt, leugnete. Er wurde auf seine Fehler hingewiesen; dann durfte er kündigen. "Was ich getan habe, tut mir Leid", erklärt er.

Inzwischen hat ein Team von nicht weniger als sieben Reportern und Autoren eine Woche lang gearbeitet, um die Geschichten, die Jayson Blair seit dem vergangenen Oktober abgeliefert hat, nachzurecherchieren. Das Ergebnis stand gestern auf der ersten Seite der Times, gefolgt von einer Entschuldigung der Redaktion.

Es ist niederschmetternd.(Die Süddeutsche Zeitung erlebte Ähnliches, als vor drei Jahren herauskam, dass der Autor Tom Kummer dem SZ-Magazin ganz oder teilweise erfundene Interviews angedreht hatte.)

Als Journalist neigt man ohnehin zum Größenwahn, aber Blair trieb seinen Wahn erstaunlich weit. Er schrieb schnell und er schrieb viel. Um aber nicht an den "Trauer-Porträts" mitschreiben zu müssen, die die Times jedem einzelnen Opfer der Anschläge vom 11. September widmete, behauptete er, einer seiner Cousins sei dabei umgekommen.

Auch das war gelogen. Jayson Blair begab sich in Behandlung, wurde schließlich von der Lokal- in die Sportredaktion versetzt, doch als im Oktober ein Heckenschütze begann, die Vororte der Bundeshauptstadt Washington zu terrorisieren, wurde auch Blair, der aus dem Nachbarstaat Virginia stammt, hingeschickt, angeblich weil die Inlandsredaktion unterbesetzt gewesen sei.

Blair brachte sofort Aufsehen erregende Geschichten heim, behauptete mit Berufung auf ungenannte Zeugen, das Verhör des Hauptverdächtigen sei auf Betreiben der US-Regierung abgebrochen worden, und die New York Times druckte das. Als das Land in den Krieg zog, mochte sich auch die regierungskritische Times nicht dem vorgeschriebenen Patriotismus verschließen.

Blair wurde wie andere Reporter losgeschickt, um über das Leid der Soldaten und ihrer Familien zu schreiben. Nie aber sah er den verwundeten Korporal Klingel, von dem er den heroischen Satz zitierte: "Man kann sich selber gar nicht leid tun, wenn es so viele Menschen schlimmer getroffen hat oder sie sogar gestorben sind."

Blair erfand genau die home stories, die seine Zeitung erwartete, allerdings schrieb er sie aus seinem eigenen Haus. Zwischen Ende Oktober 2002 und Ende April 2003, so haben die hauseigenen Rechercheure herausgefunden, "schickte Blair Geschichten, die angeblich aus zwanzig Städten in sechs Bundesstaaten kamen.

Dennoch reichte er keine einzige Rechnung für ein Hotelzimmer, einen Mietwagen oder ein Flugticket ein". Ein Handy und sein Laptop genügten Blair, um Präsenz an den Orten, aus denen er berichtete, vorzutäuschen, und die Geschichten, aus denen er sich freimütig bediente, herunterzuladen.

Die Affäre Blair sei "ein Tiefpunkt in der 152-jährigen Geschichte der Zeitung", sagt die Times. Die Konkurrenz weiß wieder, was Schadenfreude ist, und kaum einer unterlässt es, das Motto der Times zu zitieren: "Alle Nachrichten, die sich zum Druck eignen." In den vergangenen Monaten waren es zu viele, weil sie einfach zu gut passten.

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