Filmtipp des Tages:Die Schönheit des Unergründlichen

Eine Tochter verschwindet. Das ist die tragische Geschichte des neuen, des zwanzigsten Films von Almodóvar. Viele Jahre schon lebt Julieta mit einer großen Leere, ihre Tochter ist einst fortgegangen und hat nichts mehr von sich hören lassen. Nun will Julieta endlich mit dem Mann, den sie liebt und der sehr viel Verständnis hat für sie, weg aus Madrid, nach Portugal. Doch plötzlich meldet sich die Vergangenheit zurück. Julieta merkt, sie muss in Madrid bleiben, sie zieht in die Wohnung zurück, in der sie damals mit der Tochter lebte, und beginnt einen Brief zu schreiben und darin der Tochter zu erzählen, was geschah: ihre Liebe, ihre Ehe, ihr Glück.

Eine leere Wohnung. Die Orte sind wichtig in den Filmen von Almodóvar, ihre Ausstattung und ihre Atmosphäre. Die Kacheln in einer Küche zum Beispiel, das gemusterte Tischtuch, die verzierte Teekanne - es ist das Haus des Mannes, den Julieta einst liebte (). Als "Hausfrau" hat sich der schwule Almodóvar in den vergangenen Jahren gern bezeichnet, und das ist sicher nicht kokett gemeint. Es verbindet ihn mit Alice Munro, der kanadischen Literatur-Nobelpreisträgerin, von der er in "Julieta" drei Kurzgeschichten verfilmte. Es gibt so viel bei ihr, mit dem ich mich identifizieren kann, erklärt er. "Sie ist eine Hausfrau, die schreibt."

Almodóvars Filme sind immer hochpolitisch, aber die Politik dringt in sie nicht durch große Aktionen und Reden hinein, sondern durch die kleinen Formen, die angedeuteten Gesten. Die moderne spanische Gesellschaft, gesehen durch die Häuslichkeit. "Julieta" ist einer der schönsten Filme dieses Jahres, ein Werk von großer Reinheit, in dem Trauer sich mischt mit Anarchie - für die ist Rossy de Palma wieder dabei (im Bild rechts), die in den Achtzigerjahren Almodóvars Filme in brutales Chaos verwandelte, die "Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs" oder "Kika". Hier ist sie eine grimmige Meisterin der Skepsis, eine Hexe, die wie aus einem Hitchcock-Film wirkt. Almodóvar schaut diesmal aufs Meer, denn die junge Julieta zieht an die Küste, ihrer Liebe nach - ans Meer, das von der Romantik bis zur Psychoanalyse der Ort des Unendlichen und Unergründlichen, des Mythischen und Bedrohlichen ist. Unergründlich ist, was die Menschen in diesem Film tun, was sie sich antun.

Einmal kriegt Julieta von der verschwundenen Tochter eine Geburtstagskarte, ein kleiner Papierbaum, der beim Aufklappen der Karte erblüht. Es zerreißt einem das Herz, man möchte glauben, dass dies ein Zeichen der Hoffnung sein könnte. Am Ende, sagt Almodóvar von den Figuren von Alice Munro, die auch die seinen sind, spüre ich, dass ich weniger über sie weiß als zuvor. Für mich ist das sehr positiv.

Julieta, Spanien 2016, Regie: Pedro Almodóvar, läuft in der deutschen Fassung in den Kinos Arena Filmtheater, Atelier und Leopold; im Theatiner im Original mit Untertiteln, Spielzeiten siehe Programm

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