Filmgeschichte:Grapefruit im Gesicht

Filmgeschichte: Stark muss man sein... Die junge Barbara Stanwyck erprobt ihre Mischung aus Unschuld und Verführung in dem Film "Baby Face", 1934.

Stark muss man sein... Die junge Barbara Stanwyck erprobt ihre Mischung aus Unschuld und Verführung in dem Film "Baby Face", 1934.

(Foto: Filmmuseum)

Das Münchner Filmmuseum zeigt, wie Hollywood in den Dreißigern mit Sex & Crime aufdrehte - bis die Zensur zuschlug.

Von Fritz Göttler

Das saftigste Sinnbild des amerikanischen Pre-Code-Kinos ist eine Grapefruit, in "The Public Enemy", 1931. Ersonnen wurde es von Regisseur William A. Wellman, in Erinnerung an seine diversen Frauen, die am Frühstückstisch oft unangenehm kühl wurden. So ergeht es auch James Cagney in diesem Film, als wieseligem Junggangster, den Mae Clarke ganz irre nervt, sodass er ihr eine halbe Grapefruit voll ins Gesicht drückt.

Beim Stichwort Pre-Code geraten Cineasten in Verzückung, Kinematheken auf der ganzen Welt haben deftige Reihen darüber gezeigt, zurzeit das Münchner Filmmuseum. Pre-Code, das ist Hollywood Anfang der Dreißiger, im Ausnahmezustand. "Die Tonfilme kamen, die Börse crashte, und Hollywood zog ein Rennen gegen Hysterie durch", beschreibt Jim Hoberman die Stimmung damals. In den Zwanzigern galt das Kino als Schmuddelkind - die Anarchie des Slapsticks, die Sexskandale von Fatty Arbuckle und Chaplin. Das Kino war billig und böse, liederlich und lüstern, respekt- und furchtlos. Hollywood Babylon. Absolute Freiheit, die zu Subversion und Perversion führt, außer jeder Kontrolle - wie lang kann und mag eine Gesellschaft sich das leisten? Das Problem - zwischen Zensur und Selbstzensur - ist heute erneut in der Diskussion, um die sozialen Netze, bei Facebook oder im Darknet.

In dieser Zeit streckte King Kong seine klobigen Finger nach der weißen Frau aus...

Aus Angst vor staatlichen Zensurmaßnahmen hatten die Hollywoodbosse 1930 sich einen Production Code selbst verpasst. Nach seinem Chef William Hays - ein Diakon der Presbyterianer, Funktionär der Republikaner - auch Hays Code genannt. Aber Hays' Leute bekamen den Produktionsprozess einfach nicht in den Griff, den kreativen Wirbel zwischen Storyeinfällen und Scripts, Artdirection und Dreh. Und die Filmemacher drehten, aus Furcht vor der restriktiven Zukunft ihres Business oder einfach aus Lust am Widerstand, noch einmal kräftig auf. Machten Filme, die all das zersetzten, was mit correctness und decency zu tun hat, Filme, die in ihrer Schnelligkeit, Dreistigkeit, Härte noch heute uneinholbar sind. Moralischer Splatter.

In dieser Zeit streckte King Kong seine klobigen Finger nach der weißen Frau Fay Wray aus, zog ein geiler Mr. Hyde durch dunkle Gassen, demolierten die Marx Brothers und W. C. Fields Zucht und Ordnung und Dramaturgie, und Cecil B. DeMille malte lustvoll das antike Lotterleben aus, gegen das nur das Christentum helfen sollte. Dazu jede Menge Gangster und leichte Mädchen, Kettensträflinge und "wild boys of the road", familienlose Kids, die Amerika durchzogen auf der Suche nach Geborgenheit. Selbst in der grandiosen Nummer "Remember My Forgotten Man" wurde Krieg und Nachkrieg durchgespielt in dem Musical "Gold Diggers of 1933" von Busby Berkeley. So unvermittelt wie sonst nie wieder zeigten diese Filme, wie die Depression den American way of life deformierte, und wie automatisch der New Deal, der sie staatlicherseits beenden sollte, zu striktem Reglement und regressiver Kontrolle führte. 1934 hatte die Catholic - später: National - Legion of Decency so viel Staub aufgewirbelt im Kampf um ein reines Kino, dass endlich energisch Ernst gemacht wurde mit dem Hays Code, unter dem neuen Chef, dem Katholiken Joseph Breen, mit den strikten "Don'ts" - Fluchen oder Homosexualität - und den "Be carefuls" - Verständnis für Kriminelle, medizinische Operationen, intensives Küssen. Scripts und Filme brauchten nun ein offizielles Siegel.

Der Pre-Code war die Zeit der Frauen im Kino, die ihre Freiheit erkämpften, an der Spitze Mae West, die am Broadway angefangen hatte mit Stücken, die sie sich selbst auf den Leib schrieb. "Sex" hieß das erste. "In der New York Times konnte es nicht besprochen werden, weil Sex ein Tabuwort war, das damals das Imprimatur noch nicht hatte. Was Mae West vom Sex zum Ausdruck bringt, ist das Visuelle, sind dessen Gesten . . . " (Frieda Grafe). Unfassbar dreist und schön ist die junge Barbara Stanwyck, die als "Night Nurse" operiert und als "Baby Face". Da wird sie von ihrem Vater, der vom heimlichen Alkoholausschank in seiner Spelunke lebt, als Dreingabe den Männern angeboten. Als der Vater stirbt, geht sie nach New York und schläft sich Stockwerk für Stockwerk in den Wolkenkratzern der Businessmen empor. Ein Schuster hat sie bestärkt: "Ein Mädchen so jung und schön kann alles haben, was sie will in der Welt. Du musst Herr sein, nicht Sklave. Benutze Männer! Sei stark!" Das ist von Nietzsche inspiriert, und es klingt irritierend aktuell. Joseph Breen persönlich hat das umgeschrieben und entschärft, erst 2004 hat Mike Mashon, der die Münchner Reihe gestaltet, in der Library of Congress eine Kopie der Originalversion gefunden. Die Jungstars sind so skrupellos wie unschuldig in diesen Jahren, Stanwyck wie auch James Cagney, der einen gemeinen Zug um den Mund hat, wenn er mit der Grapefruit hantiert, aber auch eine kindliche Neugier im Blick. Der Pre-Code ist ein wildes, rasantes Experimentierfeld. Er ist - so hat später William Wellman, sein zugkräftigster Regisseur, seine Autobiografie genannt - "a short time for insanity".

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