Filmfestspiele Venedig:Heimstatt eines Mörders

Filmfestspiele Venedig - ´The Look of Silence"

Eine Szene aus Joshua Oppenheimers Dokumentarfilm "The Look of Silence".

(Foto: dpa)

In "The Look of Silence" bohrt Joshua Oppenheimer in den Wunden Indonesiens. Dieser Film ist ein Ermittlungsverfahren, politisch, pädagogisch, unerbittlich. Außerdem: eine Charlie-Chaplin-Farce aus der Schweiz. Filme im Wettbewerb von Venedig.

Von Thomas Steinfeld, Venedig

Am Ende des Films sieht man einen nackten, mageren, sehr alten und sehr verwirrten Mann, wie er in seiner Hütte herumkriecht und behauptet, dies sei nicht sein Haus. Man habe es ausgetauscht. Und man ahnt, was sich der Regisseur Joshua Oppenheimer dabei dachte, als er seine Dokumentation "The Look of Silence" mit dieser Szene abschloss.

Denn dieser Film ist ein Ermittlungsverfahren. Es gilt einem von der indonesischen Regierung befohlenen und unter Aufsicht der Armee vollzogenen Massenmord, dem Mitte der Sechzigerjahre mehrere Hunderttausend, vielleicht sogar eine Million Menschen zum Opfer fielen, die Kommunisten waren oder auch nur zu sein verdächtigt wurden.

Vergangen schienen diese Gräuel zu sein, verdeckt von einem Alltag und unzähligen gewöhnlichen Verrichtungen, und nun fährt die Kamera hinein und mit ihm Adi, der Optiker, der Unscharfes wieder deutlich werden lässt und zum Agenten des historischen Gewissens wird. Je klarer und tiefer der Blick in die Vergangenheit wird, desto mehr verwandelt sich jedes Haus in die Heimstatt eines Mörders.

Zuschauer in Geiselhaft

Von großer Poesie sind die Bilder, die Joshua Oppenheimer vom Norden der Insel Sumatra zeigt, und sie sind es auch, wenn sie Beton, Insekten oder nächtlich dahinbrummende Lastwagen zeigen. Von großer Unerbittlichkeit aber sind die Nachforschungen, die der Agent des Gewissens vorantreibt.

Gemeinsam nehmen sie den Zuschauer in Geiselhaft, lassen ihm kein Entkommen mehr und enthüllen, Blick für Blick, Frage um Frage, ein in Blut getauchtes Land des Schreckens: Es besteht bei weitem nicht nur aus einer vergangenen Welt, in der in einem ungeheuren Versuch zur nationalen Reinigung über Tage und Wochen hinweg gehackt und geschlitzt, gestochen und zerschlagen wurde. Es besteht auch in der bedingungslosen Normalität dieses Geschehens, im Stolz der Täter auf ihre Mitwirkung am Massenmord, in ihrer Bereitschaft, das große Morden vor der Kamera nachzuspielen, und in der bedrohlichen Einsamkeit, in der sich der Detektiv befindet.

Metapher der Brille und des Optikers

Schon einmal hat Joshua Oppenheimer einen solchen Film gedreht, nämlich "The Act of Killing" (2012). Doch wo dieser sich den Tätern zuwandte, soll der jüngste den Opfern gelten - und mit dieser Wendung einher geht ein beträchtliches Maß an versuchter Disziplinierung des Zuschauers.

Sie beginnt mit der filmisch realisierten Metapher der Brille und des Optikers, setzt sich fort in den immer wieder ins Bild gesetzten springenden Bohnen - sie wirken wie totes Material, bewegen sich aber, weil in ihnen Larven arbeiten - und kulminiert in der Figur des Adi. Wenn ihm aber die Kamera immer ins fast unbewegte Gesicht schaut, was zeigt sie dann? Das Wirken der Wahrheit? Das allmähliche Entstehen historischen Bewusstseins? Das wachsende Verlangen nach Schuld? Es mag sein, dass der Film, allem pädagogischen Furor zum Trotz (oder gerade deswegen), mit der Beantwortung solcher Fragen nicht erst am Ende überfordert ist.

Hilfsarbeiter und Gelegenheitsganove

In einer Hütte beginnt - und endet vermutlich - auch ein anderer Film, der im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig gezeigt wird: Sie steht auf dem Betriebshof der Gemeinde Vevey am Genfer See und beherbergt den Kommunalarbeiter Osman, einen Immigranten aus Algerien, seine Frau und seine Tochter. Zu ihnen stößt Eddy, ein gerade aus dem Gefängnis entlassener belgischer Kleinkrimineller, der Osman einst das Leben rettete.

Arm sind diese vier Menschen, so arm, wie es wohl auch im Jahr 1977 in der Schweiz fast niemand mehr war, und weil Osmans Frau mit einer arthritischen Hüfte im Krankenhaus liegt, aber nicht versichert ist, nimmt eine Geschichte ihren Lauf, die man ein Lustspiel nennen könnte, würde das Schicksal nicht so nackt gezeigt. Und wären die Schauspieler - vor allem Benoît Poelvoorde als Eddy und Roschdy Zem als Osman - nicht so gut, dass man sich bald gar nicht mehr vorstellen kann, sie seien je etwas anderes gewesen als Hilfsarbeiter und Gelegenheitsganove.

Ein kleines Melodram, ein konventionell, aber klug aufgebautes Sozialmärchen hat der französischer Regisseur Xavier Beauvois mit "Le rançon de la gloire" (eigentlich: "der Preis des Erfolgs", hier aber auch: "das Lösegeld des Ruhms") gedreht. Und es muss nicht einmal mit größeren Mengen von Sentimentalität (das Ende ausgenommen, aber auch das nimmt man befriedigt zur Kenntnis) belastet werden, um als halbwegs realistische Erzählung zu funktionieren, mit einem schmalen Fokus und in kleinen, plausiblen Schritten.

Die Vorlage dafür bildet ein historisches Ereignis: Kurz nach dem Tod Charlie Chaplins im Dezember 1977 stahlen zwei kleine Gangster den Sarg des Schauspielers vom Friedhof in Vevey und versuchten, für die Preisgabe des Verstecks ein Lösegeld zu bekommen. Sie hatten nicht viel Erfolg damit. Xavier Beauvois nun nimmt diese Geschichte und verwandelte sie in eine Intrige, die sehr nah an Charlie Chaplins eigene Plots rückt, an "The Kid" etwa, an "City Lights" oder an "The Circus", unter vorsichtigem Einschluss von europäischem Mitleid (auf dem Charlie Chaplin ja auch in Amerika bestand).

Ein großartiger Film

Im Bild setzt Xavier Beauvois diese Reverenzen diskret um. Nie rückt er seinen Darstellern zu nahe, immer ist die Szene wichtiger als der Effekt, und die Sparsamkeit der Mittel ist hier ein Ausdruck von Lebendigkeit. Sogar der Slapstick wird auf knappe Bewegungen reduziert, die jedesmal dicht am Gelingen liegen, und wenn die beiden dilettantischen Verbrecher auch zuweilen einen etwas arg ahnungslosen Eindruck machen, so ist es doch ausgerechnet Eddys Liebe zum Pathos, die seine diversen Verblendungen wieder plausibel werden lässt: Es ist ihm eben alles, wie das Glück, das er einmal schon in der Hand zu halten behauptet, ein wenig zu groß.

Und damit der Zuschauer in jedem Fall merkt, was hier gespielt wird, begleitet Beauvois die kleinen Motive, die er Charlie Chaplins Werken entlehnt, mit einem prächtigen Orchester, und es spielt dann eine Musik, in der die originalen Soundtracks durchscheinen. "Le rançon de la gloire" ist ein großartiger Film, gut erzählt, doppelbödig, ironisch und am Ende sogar doch noch blödsinnig heiter.

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