Filmfestspiele:Mutig und richtig

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Die Berlinale endet mit einem Goldenen Bären für den Film "Touch Me Not", der zuerst abstößt und dann berührt.

Von Tobias Kniebe und David Steinitz

Hauptgewinn in Berlin: Szene aus „Touch Me Not“ von Adina Pintilie. (Foto: dpa)

Der Goldene Bär, der Hauptpreis der Berlinale, schickt in diesem Jahr eine starke Botschaft an die Welt. Die Jury, geleitet vom deutschen Regisseur Tom Tykwer, möchte ein möglichst großes Kinopublikum in den rumänischen Film "Touch Me Not" von Adina Pintilie locken. Was das bedeutet, erklärt man am besten mit einer frühen Szene in diesem Film: In einem klinisch weißen, superhell ausgeleuchteten Raum sieht man einem Workshop zu, bei dem behinderte und nichtbehinderte Menschen lernen sollen, sich zu berühren.

Das Betasten des Gesichts ist angesagt. Die Kamera nähert sich also, in gnadenlos scharfer Digitalauflösung, dem Protagonisten Christian, dessen Körper durch eine spinale Muskelatrophie zu einem winzigen Bündel nutzloser Gliedmaßen geschrumpft ist. Speichel läuft ihm aus dem Mund, den er nicht schließen kann. Drei sehr steile, angefaulte Zähne ragen heraus. Sein Workshop-Partner spricht für die meisten Betrachter, als er über seine Gefühle reden soll: Er kann kaum hinsehen - und die Aufgabe, dieses Gesicht zu berühren, löst starke Fluchtreflexe in ihm aus.

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Ein Bärenhauptgewinner, der starke Fluchtreflexe auslöst? Klingt das nicht wieder nach einem lachhaften Zerrbild brotloser Berlinale-Filmkunst, die am Ende niemand sehen will? Auch die Gesamtbeschreibung des Films macht es nicht unbedingt besser: Mehrere Protagonisten, die alle ihre Probleme mit Intimität und Berührung haben, erkunden in dokumentarisch-realen Konfessionen ihre Ängste und Hemmungen und unperfekten Körper bis in die letzte Pore vor der Kamera.

Der Jurypräsident Tom Tykwer jedenfalls schien sich der Herausforderung sehr bewusst zu sein, die in dieser Entscheidung steckt. Er und seine Mitjuroren wollten auch zeigen, wo das Kino sich noch hinbewegen könne, sagte er bei der Preisverleihung am Samstagabend in Berlin. Und das tun sie: Ihre mutige Wahl wird vollkommen nachvollziehbar, wenn man den Fluchtreflexen nicht zu schnell nachgibt. "Touch Me Not", der erste Langfilm einer bisher fast unbekannten Regisseurin, schafft es in zwei Stunden, unseren Blick auf den schwerstbehinderten Christian und einige seiner anderen Figuren vollkommen umzudrehen. Man verlässt das Kino nicht mehr so, wie man hineinging.

Zunächst aber gibt es noch andere Preise zu würdigen, die die Berlinale-Jury zum Ende der Festspiele in Berlin vergeben hat und die Filmen gelten, die keineswegs alle Herausforderungen sein sollen. Das zeigt der Silberne Regie-Bär für den Amerikaner Wes Anderson. Ihn nahm Bill Murray entgegen, einer seiner Lieblingsschauspieler. Anderson hatte das Festival mit seiner Animationskomödie "Isle of Dogs" eröffnet, in der Murray eine der Hunde-Hauptfiguren spricht. Der Film spielt auf einer Müllinsel im Meer, auf die alle Hunde einer Großstadt verbannt worden sind, weil der böse Bürgermeister sie loshaben will. Anderson macht daraus eine tragikomische Heldenreise eines Rudels von Außenseitern, das sich nicht abschieben lassen will. Er hat den Film in Stop-Motion inszeniert, wo durch sanftes Verändern der modellierten Figuren nach und nach die Illusion von Bewegung erzeugt wird - in 160 000 Einzelbildern. Ein enorm aufwendiges Verfahren, das der Logik des modernen US-Kinos zuwiderläuft, wo die Blockbuster möglichst schnell heruntergekurbelt werden.

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Beim Treffen kurz nach der Premiere beschrieb Wes Anderson das so: "Heute hat man ja oft das Gefühl, dass Filme ins Kino kommen, bevor sie überhaupt fertig gedreht worden sind. Es fühlt sich manchmal so hektisch und undurchdacht an, als würden noch Szenen eingefügt, während man schon im Kino sitzt." Dieser Entwicklung wollte er bei "Isle of Dogs" mit seiner geduldigen Arbeitsweise entgegentreten, quasi ein entschleunigtes Hollywoodkino.

Was Anderson heute fast ein bisschen unheimlich vorkommt, ist, wie die Welt sich in der vierjährigen Arbeit am Film seinem Drehbuch angenähert hat. Als er am Skript saß, habe "drüben in Washington, D. C." noch keiner über Mauern schwadroniert. Aber plötzlich war aus seiner kleinen Underdog-Satire auch ein politischer Kommentar geworden, was der Jury die Preisentscheidung vermutlich noch einmal etwas leichter gemacht hat.

(Foto: sz)

Um die Preise gerecht auf die Welt zu verteilen, ging es für die Kategorie Bester Schauspieler wieder zurück nach Europa. Der französische Darsteller Anthony Bajon wurde für seine Rolle im Jugenddrama "La prière / Das Gebet" ausgezeichnet. Der Film von Cédric Kahn folgt einer Art Blaupause für Festivalproblemfilme: Junger Mann mit Drogenaffinität kommt in eine christliche Entzugsanstalt in den Bergen, wo er mit sich selbst, Gott und hübschen Französinnen hadert. Theoretisch also recht vorhersehbar, wenn Anthony Bajon diese adoleszenten Strapazen nicht mit einer Unschuld und Energie spielen würde, als habe vor ihm noch nie jemand Probleme mit sich selbst, Gott oder hübschen Französinnen gehabt - ziemlich beeindruckend.

Bei den Frauen wurde seine paraguayische Kollegin Ana Brun als beste Schauspielerin ausgezeichnet, für "Las herederas / Die Erbinnen". Der Film von Marcelo Martinessi erzählt die Geschichte von zwei älteren Damen, die seit Jahren ein Paar sind und es sich in ihren Beziehungsneurosen mit festen Rollenverteilungen bequem gemacht haben. Als sie auseinandergerissen werden, muss die verschlossene Chela sich neu erfinden. Durch Zufall wird sie zur Chauffeurin ihres Viertels und fährt Frauen verschiedener Altersklassen und Schichten durch die unsichere Stadt Asuncíon, eine Hommage an weibliche Solidarität in Paraguay. Der Film gewann auch noch einen weiteren Silbernen Bären, den Spezialpreis für "neue Perspektiven".

Was die Präsenz von Frauen unter den Gewinnern betrifft, kann es diesmal insgesamt keine Klagen geben. Den Großen Preis der Jury, den zweitwichtigsten Bären, gewann die Polin Malgorzata Szumowska, die mit der Berlinale bekannt wurde und ihr seit Jahren die Treue hält. Ihr Film "Twarz/Fresse" erzählt die wahre Geschichte vom Bau einer gigantischen Jesusstatue in der polnischen Provinz und von einem Arbeiter, dessen Gesicht bei einem Unfall auf der Baustelle schrecklich entstellt wurde. Eine Kritik an polnischer Bigotterie, tiefkatholischem Aberglauben und Kaltherzigkeit - aber doch viel erwartbarer als der Hauptgewinner.

Denn dieser Hauptgewinner aus Rumänien, "Touch Me Not", handelt von der Angst vor Berührungen, aber das Berühren gelingt ihm in Bezug auf seine Zuschauer. Das bestätigte eine weitere Jury, die über das beste Erstlingswerk zu entscheiden hatte - auch sie wählte diesen Film. Das kleine Wunder, das darin passiert, kann man wieder sehr gut mit dem schwerstbehinderten Christian erklären. Denn sobald man sich an die Entstellung seines Körpers und Gesichts ein wenig gewöhnt hat, bemerkt man vor allem seine hellwachen, schönen blauen Augen - und beginnt ihm zuzuhören.

Der Mann, man kann es nicht anders sagen, ist furchtlos. Er lebt mit sich und seinem Körper und dem, was er in anderen Menschen auslöst, vollkommen im Reinen. Man sieht ihn mit seiner nichtbehinderten Frau, die ihn mit mütterlicher Fülle trägt und umhüllt, man spürt ihre besondere, intime Beziehung. Dann spricht er darüber, wie viel Freude ihm sein Penis macht, wie normal er funktioniert, ja, wie stolz er auf dessen Größe ist.

Und auf einmal wirkt dieser Christian nicht nur wie ein ganz normaler Mann, sondern wie ein Vorbild sexueller Befreiung: Man sieht ihn splitternackt auf einem Diwan in einem SM-Club thronend, von den Kurven seiner Frau umflossen, ein König unter Gleichgesinnten, in seinem Reich. Das letzte Bild, das dieser Film von ihm schafft, hat den ersten, abstoßenden Eindruck vollkommen ausgelöscht. Und ein Film, dem das gelingt, der ein paar Synapsen im Hirn seiner Zuschauer komplett neu verdrahtet - hat der nicht jeden Bären verdient?

© SZ vom 26.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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