Filmfestspiele in Cannes:Kino auf Schattenfang

Lesezeit: 3 min

Das Drama "Entre les murs" von Laurent Cantet ist mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden - ein Film, der so kunstvoll am Rande des Dokumentarfilms balanciert, dass man sich fragt, wie die Schauspieler das hinbekommen haben.

Susan Vahabzadeh

Cannes ist Kulisse, der Ort verwandelt sich, wenn das Filmfest vorüber ist, wieder in ein verschlafenes Nest am Meer bis zur Sommersaison; die Abbauarbeiten beginnen schon, bevor das Festival tatsächlich vorüber ist, es bleiben zum Schluss ohnehin nur noch wenige Festivalbesucher übrig.

Laurent Cantet (Foto: Foto: AFP)

Das ist ein bisschen so, als ob man schon mal mit Spülen anfängt, während die letzten Gäste noch am Tisch sitzen. Weswegen das Ende des Wettbewerbs selten Erwartungen weckt - meist wird dort schamhaft versteckt, was nicht jeder gesehen haben muss.

Umso größer ist die Überraschung, wenn das Festival im letzten Augenblick noch so ein kleines Wunderwerk wie Laurent Cantets "Entre les murs" aus dem Hut zaubert - das dann auch noch die Goldene Palme für Frankreich holt.

Der Film balanciert kunstvoll am Rande des Dokumentarfilms, so kunstvoll, dass man sich fragen muss, wie Cantet, sein Autor und Hauptdarsteller François Bégaudeau und ein Haufen Schulkinder das zum Teufel hinbekommen haben.

Bégaudeau ist selbst mal Lehrer gewesen und hat seine Erfahrungen in dem Buch "Entre les murs" verarbeitet. Schauspielerfahrung hat er aber kein - und ist als François Marin so großartig und glaubwürdig, dass man einige Profis aus dem Wettbewerb bei ihm in die Schule schicken möchte.

Die Doku-Fiktion entspinnt sich über ein Schuljahr an einer Schule im 20.Arrondissement von Paris, wo der Anteil von Immigrantenkindern besonders hoch ist.

Ausgangspunkt ist die erste Lehrerkonferenz nach den Sommerferien, die Neuzugänge im Personal machen sich mit den Veteranen bekannt - Marin ist noch jung, aber schon ein paar Jahre dabei. Und, einstweilen zumindest, noch nicht frustriert. Obwohl der Unterricht, bei dem man ihm zuschaut, keinen Anlass zur Hoffnung gibt: Ein paar wenige Kinder, 13 bis 14 Jahre alt, arbeiten mit, der Rest sitzt seine Zeit ab wie im Knast oder betreibt lautstark Sabotage, und nur Marin selbst ist sich bewusst, dass hier über die Zukunft dieser Kinder entschieden wird.

Was er denn als Lektüre verwenden könnte, fragt ein neuer Französischlehrer Marin, Voltaire? Ich glaube nicht, antwortet Marin vorsichtig, offensichtlich wild entschlossen, dem Neuen nicht schon den Dämpfer zu verpassen, den er sowieso abbekommen wird.

Cantet erzählt das vorurteilsfrei und unparteiisch, und ohne jeden Lösungsansatz - gerade das macht seinen Film so aufwühlend, dass er nichts simplifiziert und die Sehnsucht nach Schuldzuweisungen nicht erfüllt.

Marin kämpft an allen Fronten, um die Aufmerksamkeit der Kinder, einen Elternbeirat, der selbst von jeder Verantwortung für Disziplinlosigkeit freigesprochen werden will, und vor allem gegen die Umstände. Er hat es mit Eltern zu tun, die ihm nicht helfen können, weil sie kein Französisch sprechen, Kindern, die ihre eigenen Komplexe unmöglich allein in den Griff bekommen können. Ein klassischer Festivalfilm - man muss sich keine Illusionen machen: Gegen die Unterhaltungsmaschinerie kommt diese detaillierte Frustrationsstudie nicht an.

So gesehen funktioniert der Abschlussfilm wie eine Conclusio zum Wettbewerb - "What Just Happened?", von Barry Levinson, nach dem Buch des Produzenten Art Linson. Robert DeNiro spielt den Produzenten und der Jurypräsident Sean Penn, sehr selbstironisch, sich selbst, und Cannes kommt auch vor.

Eine witzig erzählte, aber eigentlich bittere Hollywoodstory - wie destruktiv die Industrie versucht, ein Publikum zu berechnen, das es vorzieht, unberechenbar zu bleiben.

Hollywood inszeniert sich gern selbst, und wie das manchmal außer Kontrolle gerät, davon handelt der Dokumentarfilm "Roman Polanski: Wanted and Desired" von Marina Zenovich, produziert von Steven Soderbergh, wie auch ihre Film über Bernard Tapie.

Zenovich dröselt den Prozess gegen Polanski wegen Verführung Minderjähriger auf, die mediale Selbstinszenierung eines promisüchtigen Richters. "Er hat eine Show daraus gemacht, und ich wollte nicht darin mitspielen", sagt Samantha Geimer, das Opfer - ihre öffentliche Vergebung für Polanski, dass sie den Prozess gegen ihn, so wie er geführt wurde, als Farce empfinde, hat Zenovich vor Jahren auf das Thema gebracht.

Zenovich versucht nun, die Vorgänge aufzurollen, fair aber ohne Freisprüche. So weit, dass sich Opfer, Staatsanwalt und Angeklagter gegen einen verbünden, muss man es als Richter ja erst mal bringen. Im Film redet Geimer selbst, allerdings bleibt der Vorfall selbst tabu. Sie ist eine zur Öffentlichkeit Verurteilte, die wenigstens einmal selbst das Bild von sich bestimmen will.

Polanski taucht nur in einem alten Interview auf und in Filmausschnitten. In diesen kleinen Szenen wird einmal mehr deutlich, wie eng am Ende doch sein Werk und seine Biographie verbunden sind - dass er sich immer hinter seinen Fiktionen zu verstecken versuchte, und darin doch sichtbar wird.

Der Film ist, was Charlie Kaufmans "Synecdoche, New York" im Wettbewerb hat werden wollen - es geht da um einen Regisseur, der in einer riesigen Halle seine Welt als Theaterstück zu inszenieren versucht, was natürlich nicht funktioniert, weil er ein Leben lang hinzufügt, immer dem vergangenen Tag hinterherläuft, und sein Leben dabei irgendwie immer in der Retrospektive führt.

Darüber, dass auch der Film ständig zu versuchen scheint, seinen eigenen Schatten zu fangen, tröstet einen der wunderbare Philip Seymour Hoffman in der Hauptrolle hinweg. Aber so zum Leben wie bei Laurent Cantet erwacht der Film nie.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: