Filmfestspiele in Cannes:Imperialismus auf die Netflix-Art

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Wer nicht nach unseren Regeln spielt, ist bald tot: Netflix-Chef Sarandos erklärt der Branche in Cannes die Zukunft.

Von David Steinitz, Cannes

Zu den wichtigsten Festivalsprachen in Cannes gehört in diesem Jahr neben Französisch und Englisch: Netflixisch. Das ist eine sehr höfliche Filmdiplomaten-Sprache, die unter den Tausenden Besuchern an der Côte d'Azur zwar nur von einer einzigen Person gesprochen wird - die aber ist derzeit in Personalunion die wichtigste Hass- und Galionsfigur der Filmindustrie.

Ted Sarandos, kreativer Chef des Streaming-Dienstes Netflix, hielt am Wochenende vor aufgeregt zusammengedrängelten Branchenvertretern eine Rede darüber, wie er sich die Zukunft des Films vorstellt. Und weil für einen Heimvideo-Verfechter wie Sarandos das Kinoparadies Cannes kein leichtes Pflaster ist, hat der geübte Schwurbelredner sein Netflixisch noch mal verfeinert. Das klingt dann zum Beispiel so: "Wir sind nicht gegen Kinos, wir sind für Filme."

Geübter Schwurbelredner: Netflix-Chef Ted Sarandos bei seinem Auftritt in Cannes. (Foto: Getty Images)

Ins Deutsche übersetzt heißt das: Entweder ihr alten Kinodinosaurier spielt unser Streaming-Spiel mit - oder ihr seid bald tot. Für die nahe Zukunft kündigte Sarandos an, dass Netflix neben Serieneigenproduktionen wie "House of Cards" auch vermehrt in Spielfilme investieren will. Denn, und das war ein rarer Einblick in die sonst so streng geheim gehaltenen Netflix-Zahlen: Von allen gestreamten Netflix-Stunden fallen nur ein Drittel auf Filme und zwei Drittel auf Serien.

Also müssen Filme her, und die sollen dann gleichzeitig im Kino und auf Netflix starten, was die Kinobetreiber überhaupt nicht witzig finden, weil sie heftige Umsatzeinbrüche fürchten.

Unverständnis der Amerikaner über europäisches Filmfördersystem

Als ein französischer Journalist es wagte, zum Abschluss der Veranstaltung den neuen Netflix-Imperialismus vorsichtig zu kritisieren, ereignete sich eine herrliche Szene. Der Journalist mokierte, dass die Firma besonders für den europäischen Autorenfilm gefährlich sei, weil das Unternehmen nichts in die europäischen Filmfördertöpfe einzahle. Daraufhin erhob sich aus der ersten Reihe des Auditoriums das imposante Produzenten-Urgestein Harvey Weinstein von seinem Stuhl, der einst Tarantino entdeckt und Cannes schon besucht hat, als die meisten der Anwesenden noch gar nicht geboren waren. Weinstein also, als manisch-genialer Choleriker verschrien, schnappte sich ein Mikrofon und schnaubte wütend hinein, dass Netflix eine "visionäre Firma" sei und das europäische Filmfördersystem auf den Müll gehöre. Kawumm!

Für welche Art von Filmen Netflix als zukünftige Produktionsfirma gut, für welche eher schlecht wäre, ließ sich im Anschluss sehr schön im laufenden Wettbewerb des Festivals ablesen.

Ein Film wie "Mia Madre" zum Beispiel, vom italienischen Festival-Liebling Nanni Moretti, hätte es in der schönen neuen Netflix-Welt schwer: Die Geschichte einer Filmregisseurin in mittleren Jahren - ein weibliches Alter Ego von Moretti - die an den großen und kleinen Dingen des Lebens und Filmens leidet, wäre wohl nicht die erste Wahl der Netflix-Geldgeber.

Mit der Produktion von Filmen dieser Art würde Netflix in eine Marktlücke vorstoßen: Cate Blanchett in der Highsmith-Verfilmung "Carol". (Foto: Cannes Film Festival)

Eine hübsche Tragikomödie zwar, mit einem herrlichen Gastauftritt von John Turturro als chaotischer Star-Diva am römischen Set. Ansonsten aber für den Weltmarkt, den Sarandos anstrebt, mit Sicherheit zu lokal-europäisch-kunstfilmhaft.

In welche Marktlücke er hingegen mit Sicherheit gerne vorstoßen möchte, zeigt in Cannes Todd Haynes' zärtliche Patricia-Highsmith-Verfilmung "Carol". Denn "Carol" repräsentiert genau die Art von amerikanischem Film-Mittelbau mit moderaten Budgets und wenig Spezialeffekten, den die Hollywood-Studios, die jeden Dollar für ihre Blockbuster sparen müssen, mittlerweile vollkommen vernachlässigen.

Basierend auf dem Highsmith-Roman "Salz und sein Preis", den die Autorin 1952 aus Angst vor Konsequenzen unter Pseudonym veröffentlichte, erzählt "Carol" die lesbische Liebesgeschichte zweier Frauen zu einer Zeit, als man zum Mittagessen noch Martinis trank.

In den gleichzeitig spießigen und verruchten Fünfzigern lernen die Verkäuferin Therese (Rooney Mara) und die reiche Vorstadtmutter Carol (Cate Blanchett) sich in einem Spielzeuggeschäft kennen, mitten im chaotischen New Yorker Weihnachtstrubel. Zwischen den beiden entwickelt sich eine Affäre, die trotz Highsmith-Touch ganz ohne Mord auskommt - in der aber eine beständige Bedrohung mitschwingt.

Haynes, der mit Blanchett bereits den Bob-Dylan-Film "I'm Not There" gemacht hat, erzählt das nicht so provokativ und körperbetont wie die letzte große lesbische Liebesgeschichte in Cannes, "Blau ist eine warme Farbe" von 2013. Sein Film ist eher eine zwischen viel Zigarettenrauch und zart hinters Ohr gestrichenen Locken erzählte Romanze voller Andeutungen.

Das Ganze entwickelt sich in einem Tempo, das man im besten Sinne als altmodisch bezeichnen kann, ganz ohne Schnitt-Hektik.

Matthew McConaughey kämpft gegen Pathos und Esoterik

Ebenfalls ganz ohne Schnitthektik, nur leider im vollkommen negativen Sinn, hat es der Regisseur Gus Van Sant ("Good Will Hunting") am Wochenende geschafft, den wunderbaren Lauf seines Hauptdarstellers Matthew McConaughey vorerst zu beenden. Nach den famosen Werken "True Detective", "Dallas Buyers Club" und "Interstellar" muss der Schauspieler sich nun im Wettbewerbsbeitrag "Sea of Trees" durch eine sensationell pathetische und esoterische Geschichte kämpfen.

Nachdem seine Frau gestorben ist, fliegt er nach Japan, um sich in dem bei Selbstmördern hochbeliebten "Sea of Trees"-Park das Leben zu nehmen. Ein sehr grüner, kitschiger Film, der nach einer Stunde anstrengend und nach zwei vollkommen unerträglich wird.

Die morbide Stimmung jenes japanischen Waldes habe ihn so sehr fasziniert, dass er unbedingt einen Film darüber machen wollte, gab Van Sant am Samstag zu Protokoll. Dass die Japaner ihm aber gar keine Drehgenehmigung gaben und der Film hauptsächlich in Massachusetts gedreht wurde, ließ er vorsichtshalber unter den Tisch fallen. Grundkenntnisse in dezentem Netflixisch scheint er also gelernt zu haben.

© SZ vom 18.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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