Filmfestspiele:Deshalb hat Maren Ade gute Chancen auf die Goldene Palme

Maren Ade beim Filmfestival in Cannes

Die deutschen Schlachtenbummler in Cannes sind für Maren Ade (im Bild) und ihren gefeierten Palmen-Kandidaten "Toni Erdmann".

(Foto: dpa)

Endspurt beim Filmfestival in Cannes: Während Kandidaten wie Sean Penn und Nicolas Winding Refn scheitern, steigt die Begeisterung für Ades "Toni Erdmann".

Von Tobias Kniebe

Wenn deutsche Künstler Erfolg haben, klagen sie gern über die Missgunst ihrer Landsleute. Die Amerikaner feiern mich, heißt es dann etwa, die Franzosen tragen mich auf Händen - nur die Deutschen sind von Neid zerfressen und gönnen mir nichts.

Was immer da dran sein mag, dieses Jahr in Cannes spürt man es nicht. Alle sind für Maren Ade und ihren gefeierten Palmen-Kandidaten "Toni Erdmann". Bei jedem Kinogroßmeister im Wettbewerb, der diesmal nicht in Bestform ist, drücken die Schlachtenbummler im deutschen Eck ein bisschen fester die Daumen: Weiter so! Bessere Chancen für Toni.

In diesem Sinn haben sie auch Sean Penn und seinen Wettbewerbsfilm "The Last Face" freudig begrüßt - weil schon der erste erklärende Schriftzug darin Kichern und ironischen Szenenapplaus auslöst: "Die Brutalität zweier unmenschlicher Kriege in Liberia und im Südsudan verbindet sich mit der Brutalität einer unmöglichen Liebe" - dramatische Pause - "zwischen einem Mann" - noch dramatischere Pause - "und einer Frau."

Diese Gleichsetzung, verbunden mit einem Kitsch, die man Sean Penn nie zugetraut hätte, setzt den Ton: Bruhaha-Stimmung.

Sean Penn hat eine eigene Hilfsorganisation namens "J/P Haitian Relief Organization" gegründet und eine Zeit lang dort auch selbst ein Rettungscamp mit 55 000 Zelten geleitet.

Honiggelbe Lichtsoße und goldgelbe Musiksoße

Dafür gebührt ihm höchster Respekt - aber was er hier versucht, ist trotzdem zutiefst problematisch. Ganz offensichtlich will er die Kinozuschauer aufwecken, indem er nach Afrika in die Kriegsgebiete geht, immer wieder schwarze Haut zeigt, von klaffenden Wunden zerfetzt, Verstümmelungen, Leichenberge. Und zwar so hart es nur geht.

Damit aber überhaupt jemand hinschaut, so offenbar der Gedanke, muss auf der anderen Seite der Skala genauso gnadenlos aufgedreht werden. Mit zwei Ärzten im humanitären Fronteinsatz, Charlize Theron und Javier Bardem.

Zwei schönen Menschen also, die sich über einem Notkaiserschnitt im Dschungel tief in die Augen blicken, sich finden, heißen Sex im Zelt haben, Sätze von tiefer Bedeutung wechseln, gemeinsamen Horror erleben, sich wieder verlieren, und so fort. Und alles übergossen mit der honiggelben Lichtsoße von Kameramann Barry Ackroyd und der goldgelben Musiksoße von Hans Zimmer, dem Löwenkönig des Hollywood-Afrobeats.

Reflexion über die richtige Form

Filmfestspiele: Zwei schöne Menschen, die sich über einem Notkaiserschnitt im Dschungel tief in die Augen blicken: Charlize Theron (rechts) und Javier Bardem in "The Last Face".

Zwei schöne Menschen, die sich über einem Notkaiserschnitt im Dschungel tief in die Augen blicken: Charlize Theron (rechts) und Javier Bardem in "The Last Face".

(Foto: Festival)

Ein Art Tauschgeschäft also, nehmt dies, dann kriegt ihr auch das. Aber es funktioniert nicht, so funktioniert es ja eigentlich nie. Am Ende stehen nur beide Seiten beschmutzt da, die Filmkunst genauso wie die gute Sache in Afrika.

Und so ist es eine ungeheure Erholung, im Garten eines Hotels Laura Poitras zu treffen, die für ihre Edward-Snowden-Doku "Citizenfour" einen Oscar gewonnen hat, eine echte politische Künstlerin.

In der Reihe "Quinzaine des Realisateurs" hat sie "Risk" vorgestellt, ihre Dokumentation der letzten fünf Jahre von Wikileaks und Julian Assange, vor und nach dessen Festsetzung in der ecuadorianischen Botschaft in London.

Poitras steht auf der Seite aller Enthüller und Whistleblower, das ist klar, aber sie kommentiert nicht in ihren Filmen, auch hier nicht. Und obwohl es sicherlich ihr Anliegen ist, eine Welt mit Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom an diesen andauernden Kampf für die Informationsfreiheit zu erinnern, ist Reflexion über die richtige Form doch das Entscheidende für sie.

Nie würde sie etwa ein aktivistisches Statement zugunsten von Assange formulieren. "Ich wollte einfach noch einmal zeigen, wie diese Leute arbeiten", sagt sie stattdessen. "Die ganze Gruppe, auch Leute wie Sarah Harrison und Jacob Appelbaum. Und welchen sehr realen Preis sie für ihren Einsatz bezahlen".

Unterdessen setzt sich die Reihe der großen Regisseure, die dieses Jahr in Cannes nicht wirklich ins Schwarze treffen, mit Xavier Dolan fort. Der Frankokanadier ist erst 27 Jahre alt, aber mit seiner spezifischen Mischung aus Romantik, Familienterror, schwulem und nicht-schwulem Begehren, Traumbildern und krassen Popmusikeinsätzen schon eine echte Marke.

Die erste Liga des französischen Kinos schreit sich an

Sein neuer Film "Juste la fin du monde" basiert auf einem Theaterstück von Jean-Luc Lagarce und enthält all diese Elemente auch, wobei der Fokus diesmal doch sehr auf dem Familienterror liegt.

Ein bekannter schwuler Schriftsteller, der seine Familie früh verlassen hat, kehrt nach zwölf Jahren heim, weil er todkrank ist. Sofort versteht man allerdings, warum er fliehen musste - angefangen mit der Mutter trifft er auf einen Haufen Hysteriker.

Da schreit sich nun also die erste Liga des französischen Kinos an: Nathalie Baye, Marion Cotillard, Léa Seydoux, Vincent Cassel und Gaspard Ulliel. Und wenn es einen gibt, der diese Dynamik noch handhaben könnte, wäre es in der Tat Dolan. Allerdings: Die Theatervorlage ist nicht wirklich gut, bald versinkt alles in unerträglich eindimensionalem Generve.

Baby in der Disco

Filmfestspiele: Die wunderschöne, minderjährige Unschuld aus dem Herzland Amerikas, die in den Moloch der Modeindustrie gesogen wird: Elle Fanning in "The Neon Demon".

Die wunderschöne, minderjährige Unschuld aus dem Herzland Amerikas, die in den Moloch der Modeindustrie gesogen wird: Elle Fanning in "The Neon Demon".

(Foto: Gunther Campine)

Ganz ähnlich in seinem Element, und mit ähnlich enttäuschendem Ergebnis, präsentiert sich der Däne Nicolas Winding Refn. Bei seinem "Neon Demon" hofften viele auf eine Fortsetzung von "Drive", seinem magisch stilisierten Konsenshit - und sei es nur deshalb, weil die neue Geschichte wieder in Los Angeles spielt.

Magisch stilisiert geht es auch wieder zu, die Bilder sind zum Träumen schön, und einige Sequenzen mit pumpenden Elektrobässen und flackerndem Stroboskoplicht suggerieren eine tiefe frühkindliche Prägung - wurde Baby-Refn vielleicht in einem Weidenkörbchen in der Disco ausgesetzt?

Leider bietet die wache Ebene der Geschichte, die nicht ins Unterbewusstsein zielt und auch ein paar Dialogsätze zulässt, nur allzu Vertrautes: Elle Fanning spielt die wunderschöne, minderjährige Unschuld aus dem Herzland Amerikas, die in den Moloch der Modeindustrie gesogen wird, wo nicht nur bedrohliche Männer ihr Unwesen treiben, sondern auch ein paar ebenso schöne Kolleginnen. Und die sind, wer hätte es gedacht, noch gefährlicher als der Serienkiller von nebenan...

Man muss dann schon wieder dorthin gehen, wo auch der deutsche Beitrag "Toni Erdmann" zum größten Teil spielt, um einen weiteren ernsthaften Palmen-Kandidaten zu finden: nach Rumänien. Und so kann es passieren, dass ein Mann, der bei Maren Ade noch der Cheftechniker einer Ölförderanlage war, in Christian Mungius "Bacalaureat" als korrupter Polizeichef wieder auftaucht.

Mungui, der mit dem finsteren Abtreibungsdrama "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" schon einmal die Goldene Palme gewonnen hat, erzählt eine Vater-Tochter-Geschichte, die fast ein Spiegelbild zu "Toni Erdmann" sein könnte.

Harte Fragen, noch härtere Antworten

Während der deutsche Vater besorgt ist, dass seine Tochter im globalen Erfolgssystem etwas zu gut funktioniert, setzt der rumänische Vater alles daran, seiner achtzehnjährigen Tochter den Start in dieses System zu ermöglichen - durch ein Studium in London. Dafür braucht sie perfekte Noten beim Schulabschluss, wird aber vor der entscheidenden Prüfung überfallen und droht zu scheitern.

Nun könnte das rumänische System der Vetternwirtschaft, das der Vater hasst, und von dem er weiß, dass es sein Land ruiniert, ihre Zukunft noch retten - aber ist der Preis dafür nicht zu hoch? Harte Fragen, noch härtere Antworten. Und obwohl die Palmenjury fast grundsätzlich anders entscheidet, als die Kritiker spekulieren, wollen wir eine Prognose hier doch mal wagen: Ein großer Sieger in diesem Jahr könnte etwas mit Rumänien zu tun haben.

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