Filmfestspiele Cannes:Luftabschnürende Vorteile

"Le Passé", ein Film auf dem Wettbewerb der 66. Filmfestspiele Cannes

Regisseur Asghar Farhadi zeigt in "Le Passé" wieder einmal, dass ihn Trennungen faszinieren.

(Foto: dpa)

In Cannes spürt man einen Druck, dem sich weder Bilder noch Menschen entziehen können. So zeigt der Film "Le Passé", dass Trennungen auch faszinieren können und aus einem täglichen Drama ganz schnell eine Ermittlung werden kann. In "Fruitvale Station" wird ein Todesschuss analysiert.

Von Tobias Kniebe, Cannes

Sind es die Menschenmassen, die sich bei strömendem Regen auf der Croisette drängen, die sich gegenseitig die Regenschirme ins Gesicht drücken, um Leonardo DiCaprio einen hysterischen Empfang zu bereiten? Liegt es an dieser wunderschönen Siebzehnjährigen, die bei François Ozon so rätselhaft in die Prostitution driftet, oder an den Hollywood-Einbrecherinnen der Sofia Coppola, die vor dem Schuhschrank von Paris Hilton durchdrehen? Jedenfalls spürt man hier in Cannes einen Druck, dem sich weder die Bilder noch die Menschen entziehen können. Für die Filme muss das nicht schlecht sein.

Zum Beispiel bei "Fruitvale Station", dem Regiedebüt des Amerikaners Ryan Coogler. Gleich zu Anfang sieht man da einen Polizeieinsatz im Handyvideo, wacklig gefilmt. Mehrere schwarze Männer, von den Cops gestellt und zu Boden gebracht, offenbar an einer Metrostation. Hysterische Stimmung, gezückte Waffen, Flüche, Gebrüll. Dann hört man etwas, das wie ein Schuss klingt, und Rufe des Entsetzens. Reale Bilder sind das, aufgenommen von zufälligen Zeugen in der Silvesternacht 2009 in Oakland: Oscar Grant, 22 Jahre alt, bekommt eine Polizeikugel in den Rücken, obwohl er schon wehrlos am Boden liegt, und stirbt wenige Stunden später. Ausschreitungen und Massenproteste waren die Folge.

Der Film geht nun zurück an den Beginn dieses Tages, hinein ins Leben dieses jungen schwarzen Mannes, gespielt von Michael B. Jordan, bekannt aus der Serie "The Wire". Auch er steht unter Druck: Seine tolle, aber auch genervte Freundin, seine süße vierjährige Tochter, seine ruppig-souveräne Mutter (Oscargewinnerin Octavia Spencer) - sie alle erwarten von ihm, dass er schleunigst ein besserer Mensch wird. Noch einmal eine Zeit im Gefängnis, und alles wäre aus. Und Oscar bemüht sich. Kämpft um seinen Job im Supermarkt, wirft seine verbliebenen Drogen ins Meer, hilft Fremden auf der Straße und hält sogar einen angefahrenen Hund in den Armen, bis er stirbt.

Als die fatalen Ereignisse ihren Lauf nehmen, ist aus dem gesichtslosen Opfer so ein Mensch geworden, um den man wirklich trauert - derart simpel und zugleich effektvoll funktioniert der Film, der den Großen Preis von Sundance gewann und hier in der Reihe "Un certain regard" läuft. Weil so viel Talent darin zu sehen ist, verzeiht man ihm auch seine offensichtliche Parteilichkeit, seine strategische Wut: Er wirkt wie das Plädoyer einer Anklage, die das Opfer im besten denkbaren Licht präsentieren will - obwohl der Todesschuss ja nicht weniger unverzeihlich wäre, wenn er einen schlechteren Menschen getroffen hätte.

Sogar noch mehr unter Druck stehen die vier Protagonisten von "Tian Zhu Ding/ A Touch Of Sin" von Jia Zhangke - und dieser Druck entlädt sich durchweg mit solcher Gewalt, dass einem um das Riesenreich China angst und bang werden kann. Ein Kohlebergarbeiter, der überall Korruption und Mauschelei vermutet, greift zum Jagdgewehr - und richtet unter anderem im Inneren des Maserati, der seinem inzwischen steinreichen Boss gehört, eine Riesensauerei an; ein entwurzelter Wanderarbeiter entpuppt sich als Wanderarbeiter des Todes; eine Empfangsdame im Saunaclub, die nicht in die Prostitution gedrängt werden will, wird von einem korrupten Freier so lange mit Geldbündeln geschlagen, bis sie zur Rachegöttin mutiert; und ein junger Fabrikarbeiter stürzt sich vom Balkon seines Wohnheims, das "Oase der Prosperität" heißt.

Meister des Alltäglichen

Jia Zhangke ist zum dritten Mal im Wettbewerb von Cannes dabei und hat bereits einen Goldenen Löwen in Venedig gewonnen. Schon bisher war er ein führender Kopf der unabhängigen, eher staatsfernen "sechsten Generation" der chinesischen Filmemacher - aber die turbokapitalistischen Widersprüche seines Landes so aktuell und brutal auf den Punkt zu bringen, das ist doch noch einmal etwas Neues. Wäre in China nicht immer noch eine Kommunistische Partei an der Macht, müsste man die Stimmung dieses Films als vorrevolutionär bezeichnen. Aber was, wenn das System auch diese Kritik einfach wegstecken und in den Kreislauf der raubkopierten DVD-Filme einspeisen kann, in dem solche Produktionen in China üblicherweise landen? Dann ist es ideologisch doch weit flexibler und resistenter, als seine Gegner derzeit noch hoffen. Und dann nimmt der Widerstand vielleicht wirklich bald die gewaltsamen Formen an, die man bei Jia Zhangke hier schon sieht.

Sehr viel intimer, aber nicht weniger luftabschnürend ist der Druck in "Le Passé /Die Vergangenheit", einem französischsprachigen Familiendrama das iranischen Regisseurs Asghar Farhadi. Ahman (Ali Mossafa) kehrt aus Iran nach Paris zurück, eigentlich nur für den Scheidungstermin mit seiner französischen Exfrau (Bérénice Bejo). Er ist nicht gerade begeistert, den neuen Mann (Tahar Rahim) in ihrem Leben kennenzulernen - und wie schon in seinem oscargekrönten Vorgängerfilm "Nader und Simin - Eine Trennung" versteht es Farhadi dann perfekt, im engen Vorstadthaus an den Bahngleisen gleich mehrere Schrauben der Emotion auf einmal anzuziehen: Ein kleiner Junge rastet aus, ein Teenage-Mädchen brütet über dunklen Geheimnissen, ein Selbstmord ist passiert und wirft seinen Schatten auf den Plan, das Vergangene hinter sich zu lassen.

Farhadi ist ein Meister darin, die alltäglichsten Szenen mit Symbolkraft aufzuladen, ohne das je auszustellen. Ganz am Anfang trennt eine Glasscheibe am Flughafen das entfremdete Paar, sie reden, hören sich aber noch nicht; auf der Fahrt nach Hause stellt sich heraus, dass die Frau ihre linke Hand verletzt hat, und während sie am Steuer sitzt, muss der Mann die Gänge einlegen - beiläufiger und eindrücklicher könnte man gar nicht zeigen, dass die beiden doch immer noch ein gutes Team sind. Und dann, wie so oft bei Farhadi, wird eine Ermittlung daraus: Wer hat alles dazu beigetragen, ein fatales Ereignis auszulösen? Die Wahrheit muss ans Licht. Und je klarer sie wird, desto feiner verteilt sich die Schuld . . .

Nach der Vorführung von "Le Passé", der genauso intensiv ist wie Farhadis preisgekrönte Vorgängerfilme, ist dann auch an der Croisette wieder die Sonne durchgebrochen. Man kommt aus der Betonburg des Festivalpalasts und schaut direkt aufs Meer, das zum ersten Mal gleißt und glitzert. Alle holen ihre Sonnenbrillen aus den Taschen, weil die Augen sonst wirklich schmerzen - schon sieht die Welt etwas freundlicher aus. Aber der Druck wird bleiben, so viel ist sicher. Denn die Werke der großen Filmemacher, wenn sie gelingen, reflektieren immer ganz unmittelbar, was in der Welt um sie herum passiert.

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