Filmfestspiele Cannes:Kaum auszuhalten

That Lovely Girl - 67th Cannes Film Festival

"Harcheck mi headro /That Lovely Girl" zeigt die krankhaft inzestuöse Liebe eines Vaters zu seiner Tochter.

(Foto: dpa)

Worin liegt der Reiz, Horrorgeschichten aus der Wirklichkeit nachzuerzählen? Atom Egoyan und Keren Yedaya zeigen in Cannes Filme, die an die Fälle Fritzl und Kampusch erinnern - und benutzen dabei die stärkste emotionale Waffe, die dem Kino zur Verfügung steht.

Von Tobias Kniebe

Ein Vater zu sein mit einer neunjährigen Tochter, beinahe zehn - Atom Egoyan möchte Sie fühlen lassen, wie das ist. Möchte Sie spüren lassen, wie verliebt und stolz Sie sind, möchte Sie zuschauen lassen beim Eislauftraining, wie elegant und diszipliniert die kleine Cass ihre Pirouetten dreht. Möchte Sie hören lassen, wie liebenswert altklug sie redet auf der Rückbank des Familientrucks, wenn sie sich lustig macht über ein falsches Wort, das Papa benutzt hat, der es doch wissen müsste.

Ein Vater zu sein, der nur kurz vor einer einsamen Bäckerei hält, einen Kuchen zu kaufen, der die Tochter ganz beiläufig im Truck zurücklässt, nur eine Minute, und dann wiederkommt und sie nicht mehr findet, weil Cass ohne jede Spur und für immer verschwunden ist - Atom Egoyan möchte Sie wissen lassen, dass dies eine Last ist, die Sie nicht tragen können. Und ein Schicksal, schlimmer als der Tod.

Die stärkste Waffe des Kinos

Und natürlich zweifelt niemand auch nur eine Sekunde daran. Die Liebe der Eltern zu ihren Kindern, und die Angst um sie - das ist die stärkste emotionale Waffe, die dem Kino zur Verfügung steht. Eine stärkere gibt es nicht. Sie ist aber auch die letzte. Danach kommt nichts mehr. Und wenn die Filmemacher in Cannes nun gerade diese Emotion ins Zentrum rücken, sie bestätigen, um sie auszubeuten, wie der kanadische Regisseur Atom Egoyan mit "Captives"; oder aber in Frage stellen, um tiefste Abgründe aufzureißen, wie die israelische Filmemacherin Keren Yedaya mit "Harcheck mi headro /That Lovely Girl" - dann zeugt das auch von einer gewissen Verzweiflung: Wen das jetzt nicht im Innersten berührt, scheinen sie zu sagen, den berührt gar nichts mehr.

Die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter - bei Keren Yedaya hat sich daraus eine krankhaft inzestuöse Beziehung entwickelt, die schon Jahrzehnte andauert. Moshe ist über fünfzig, Tami Mitte zwanzig, und obwohl sie Vater und Tochter sind, leben sie zusammen wie in einer sehr verstörenden, sadomasochistischen Ehe.

Vergewaltigung und Zwang, Dominanz und Unterwerfung, Eifersucht und Machtspiele und etwas, dass man sogar mit Liebe verwechseln könnte - das alles ist hier hoffnungslos vermischt. Es erinnert an die realen Schlagzeilen um den Fall Fritzl in Österreich, aber Tami kann sich frei in der Welt bewegen, ihre Gefangenschaft ist psychisch. Und der Film ist auch deshalb kaum auszuhalten, weil die Schauspielerin Maayan Turjeman furchtlos beglaubigt, dass diese junge Frau tatsächlich keinerlei Selbstwertgefühl hat.

Merkwürdige Abhängigkeitsverhältnisse

Man spürt bei Keren Yedaya - und bei Atom Egoyan dann auch - eine merkwürdige Doppelstrategie: Da möchte jemand durchaus das absolut Böse zeigen, auch entsprechende Hassgefühle wecken wie ein billig gestrickter Rachethriller, mit aller Macht zur inneren Beteiligung der Zuschauer vorstoßen. Andererseits wäre das aber für den eigenen Kunstanspruch auch wieder zu banal, weshalb Opfer und Täter in merkwürdige Abhängigkeitsverhältnisse hineingezwungen werden. Cass etwa, das Mädchen, das in Egoyans "Captives" am Anfang entführt wird, sieht man zum Beispiel acht Jahre später dann wieder.

Nun ist sie erwachsen, aber immer noch die Gefangene eines äußerst avancierten Kinderporno-Rings - und ihr Wohnquartier sieht aus, als habe Egoyan die Zelle von Natascha Kampusch durch das Designteam von Schöner Wohnen überarbeiten lassen. Anders gesagt: Ihre Aufgabe ist nun nicht mehr nur, Opfer zu sein. Cass soll im Internet andere Kinder anlocken, also bedeutet es den Entführern einiges, dass sie sich wohlfühlt und freiwillig kooperiert, und das ermöglicht ihr, Forderungen zu stellen, die dem Fall neue Wendungen geben und den Polizisten, die sie immer noch suchen, neue Hinweise. Machtverhältnisse in Extremsituationen, die eigentlich jenseits jeder menschlichen Vorstellungskraft liegen - darum geht es in beiden Fällen, und darum ging es auch schon in anderen, mehr oder weniger direkten Aufarbeitungen des Natascha-Kampusch-Falls.

Offene Wunden in der Gesellschaft

Sind es die Horrorgeschichten aus der Wirklichkeit wie Fritzl und Kampusch und einige andere, die in den letzten Jahren bekannt wurden, die den Filmemachern keine Ruhe lassen? Stellen Sie eine Art offene Wunde in der Gesellschaft dar, der sich die Erzähler nun annehmen müssen, um eine Verseuchung zu studieren oder einen Heilungsprozess, der es aber erfordern kann, den Schorf immer wieder aufzureißen?

Das wäre die freundliche Antwort auf der Frage, warum man solche Filme macht, und warum man andere dazu bringen will, sie anzuschauen - eine Antwort, die sich schulterklopfend natürlich auch die Beteiligten selbst gerne geben.

Sie ist aber womöglich eine wohlfeile Illusion. Was nämlich, wenn es Extremsituation gibt, die ein Mensch zwar erleben kann, die sich anderen Menschen aber nicht mehr vermitteln lassen, die nicht dasselbe durchgemacht haben - und schon gar nicht durch das Kino? Dann fällt der selbstgegebene Forschungsauftrag, der hier implizit immer der Rechtfertigung dient, in sich zusammen.

Und dann kann man nur zu einer eher bösen Erkenntnis kommen. Diese ganzen Kellergeschichten hinter dreifachen Bolzenschlössern, die ganzen unentrinnbaren emotionalen Gefangenschaften, die zur Zeit so erzählt werden - dann spiegeln sie auf einmal nichts anderes mehr als ein geheimes Wunschbild der Filmemacher, das den Tätern viel näher ist, als sie wahrhaben wollen.

Denn dann soll das Publikum, restlos zerstreut durch Twitter, Facebook und tausend anderen digitale Ablenkungen, bei den letzten, tiefsten und härtesten Emotionen gepackt und dann selbst in den Keller gesperrt werden, wo es keine Ablenkung mehr gibt und kein Entkommen, wo das Kino noch die Macht hat, die es immer haben wollte. Und da sitzen wir dann auch - missbraucht. Zusammen mit Tami und Cass, mit Natascha und mit den Fritzl-Töchtern. A captive audience. Ein gefangenes Publikum.

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