Filmfestival Venedig:Überraschung!

Hungernde Chinesen, gehetzte Talibankämpfer und ein Leichenwäscher mit Frauenproblem: Drei neue Filme in Venedig wollen das Publikum bestrafen. Man fragt sich nur, wofür.

Tobias Kniebe

Am Ende sind es doch die Momente der Irritation, die Filmfestivals spannend und lebendig halten. Wenn man Katalog und Pressetext bewusst ignoriert hat, wenn man unschuldig und ahnungslos im Kino sitzt, ohne eine Vorstellung davon, was kommen könnte. Und wenn dann, zumindest für eine gewisse Zeit, alles möglich zu sein scheint.

Kino

Zäher Kämpfer: Vincent Gallo in "Essential Killing".

(Foto: Filmfestival)

"Essential Killing" ist so ein Fall. Vom Titel her könnte das ein geradliniger, altmodischer Actionfilm sein, direkt für die hinteren DVD-Regale. Der Regisseur Jerzy Skolimowski ist zwar bekannt als intellektueller Autorenfilmer aus der Polanski-Generation, mit dem er auch früh zusammengearbeitet, von den Irrungen und Wirrungen der polnischen Jugend erzählt hat. Es gibt aber auch spätere, mittelgroße, beinah kommerzielle US-Produktionen von ihm.

Hat sich dieser Mann auf seine alten Tage mit Hollywoods Exploitation-Studio NuImage zusammengetan? Für eine klassische Menschenjagd mit Hubschraubern und Spürhunden in verschneiten Wäldern, mit einem gehetzten, aber auch hochgefährlichen Freiwild, im Stil des ersten, noch subversiven Rambo-Films? Eine Zeitlang sieht es so aus. Doch der gejagte, verwundete, fast unbesiegbar zähe Protagonist dieses Films ist ein Talibankämpfer. Allah treibt ihn an, überstrahlte Erinnerungen an seine schöne, burkatragende Ehefrau geben ihm Kraft. Und das Kino, das ja nun grundsätzlich jedem Einzelkämpfer die Daumen drückt, ist ganz klar auf seiner Seite.

Hochkatholischer Surrealismus

Leider mündet dieser interessante Perspektivwechsel dann doch irgendwann im hochkatholischen Surrealismus eines polnischen Kunstfilms. Was spätestens klar ist, wenn der ausgehungerte Muslim über eine stillende Mutter am Waldesrand herfällt. Er verlangt die zweite ihrer gewaltigen Brüste, und säugt daran. Das Baby protestiert. Hier wurde viel europäisches Fördergeld verbraten. Hollywood hat nichts damit zu tun.

Den Namen des wirklich sehr fusselbärtig und talibanmäßig aussehenden Helden verrät dann tatsächlich erst der Abspann. Es ist Vincent Gallo. Man hätte ihn nie erkannt. Macht aber nichts, denn Gallo zeigt dann gleich einen weiteren Film im Wettbewerb, den er selbst geschrieben, inszeniert, produziert, gespielt, geschnitten und sogar vertont hat: "Promises Written in Water".

Da ist dann auch wieder alles vorstellbar. Man muss sich nur erinnern an Cannes 2003 und einen Vincent-Gallo-Egotrip namens "Brown Bunny", dem der amerikanische Kritiker Roger Ebert damals den außergewöhnlichen Ehrentitel "Schlechtester Film in der Geschichte von Cannes" verlieh. Gallo, der Schamane unter den wilden US-Independents, verfluchte Ebert und wünschte ihm Krebs an den Hals. Ebert bekam wirklich Krebs. So viel nur dazu.

Der in Schwarzweiß gefilmte "Promises" ist nun, gemessen an der notorischen, nicht gefakten Sexszene aus "Brown Bunny", harmloser, aber auch unklarer. Gallo spielt einen Leichenwäscher, der irgendein Problem mit Frauen und nackten Frauenkörpern hat, die aber dennoch ausführlich gefilmt werden müssen. Genaueres versteht man nicht. Dafür braucht jetzt aber niemand Krebs zu kriegen, Gott sei Dank.

Zuchtmeister der Cinephilen

Unschuldig und ahnungslos, in diesem Zustand hat auch der Festivalchef Marco Müller sein Publikum am liebsten. Deshalb hat er vor Jahren den "Überraschungsfilm" eingeführt, einen Wettbewerbsbeitrag, von dem vorher keiner etwas wissen darf. So gut gehütet wie diesmal war das Geheimnis allerdings noch nie, man musste in die früheste Morgenvorstellung gehen, wenn man die Enthüllung nicht verpassen wollte. Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte sich bis zum Vorabend noch das Gerücht gehalten, es könne sich um das langerwartete neue Terrence-Malick-Epos "The Tree of Life" handeln, das auch fertig ist, wofür dann die Stars Brad Pitt und Sean Penn noch in Venedig aufgetaucht wären.

Was am Morgen dann folgt, ist allerdings die Strafe für solch eskapistische Gedankenspiele. Denn Marco Müller ist auch ein Zuchtmeister der Cinephilen, mit durchaus sadistischer Ader. Beim ersten chinesischen Schriftzeichen im Vorspann entweicht die Hoffnung aus dem Saal wie aus einem löchrigen Luftballon. Es geht dann geradewegs ins Nichts, ins Nirgendwo der Wüste Gobi, hinein in die finsterste Zeit der Kulturrevolution, 1960, in ein Umerziehungs-Arbeitslager der Kommunistischen Partei. Dort wird bald weder umerzogen noch gearbeitet, sondern unter dem Titel "The Ditch" (etwa: Das Erdloch) circa hundert Minuten lang einfach nur noch verhungert.

Regie führt Wang Bing, aus der neuen Generation der chinesischen Filmemacher, der 2003 mit seiner gewaltigen dreiteiligen Dokumentation "Tie Xi Qu: West of the Tracks" die Szene betrat. Den genauen, auch endlos geduldigen Blick seiner Dokus über das industriell sich wandelnde China bringt er mit in sein erstes Spielfilmprojekt, und er scheut dabei vor keiner Härte zurück: Wenn Mäuse gehäutet und mit lautem Rülpsen verzehrt werden, wenn ein Häftling die paar Maiskörper, die ein sterbender Kamerad neben ihm gerade erbricht, wie irr wieder in sich hineinschlingt, wenn der Kannibalismus um sich greift.

So mag es damals gewesen sein, man will das nicht einen Moment bezweifeln, es mag auch ein wirkliches Wagnis für den Regisseur und wichtig für die Entwicklung der Volksrepublik China sein, das alles zu zeigen. Der Vorspann macht allerdings klar, dass dieser Film vor allem dank westlicher Förderungen entstanden ist, letztlich für ein westliches Filmkunstpublikum. Das hat etwas unangenehm Insistierendes, das Wang Bing auch mit Jerzy Skolimowski oder mit Vincent Gallo verbindet.

Letztlich wollen diese drei Filme ihr Publikum selbst irgendwie strafen, kasteien, umerziehen. Als Zuschauer weiß man nur eben schon lange nicht mehr, warum und wofür eigentlich.

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