Filmfestival Venedig:Noch mal alles falsch machen

Hanni und Nanni auf Speed, letzte Minuten mit Al Gore und dem Dalai Lama: Die neuen Filme in Venedig beschwören die Jugend - und den Weltuntergang.

Susan Vahabzadeh

Wenn in Häusern tatsächlich alle Toten spuken, die einst in ihnen gelitten haben, dann ist die Sala Grande übervölkert: Verzweifelte Festivalchefs vergangener Jahrzehnte, vom Kampf mit den italienischen Behörden zermürbt, verlorene Kritikerseelen, die bei jedem Festival mindestens drei Versionen des bevorstehenden Weltuntergangs absitzen mussten, oder - ein Einzelschicksal - das Gespenst des brasilianischen Regisseurs Glauber Rocha, der 1980 ein Riesengeschrei veranstaltete und Louis Malle als Faschisten und zweitklassigen Filmemacher beschimpfte, weil der für "Atlantic City" den Goldenen Löwen bekam, den Glauber Rocha zu verdienen meinte. Vielleicht ist das Problem der meisten Gespenster, dass sie sich allein durchschlagen müssen - wie Ernessa, die in ihrer Geisterheimat jede Menge lebendiger Mädchen und Motten um sich hat, aber keinen, mit dem sie spuken kann, in Mary Harrons' "The Moth Diaries".

Sarah Gadon

Schauspielerin Sarah Gadon posiert in Venedig für ihren neuen Film "The Moth Diaries".

(Foto: AP)

In der ersten Szene kommen die Mädchen im Internat an, Bryglaw, eine Schule in einem alten Hotel. Das Ganze lässt sich an wie Hanni und Nanni auf Speed, bis eine neue Schülerin auftaucht, Ernessa eben (Lily Cole), die alle mögen, nur Rebecca nicht - sie klammert sich an ihre beste Freundin Lucy und wird von Eifersucht zerfressen.

Eine schön doppelbödige Geschichte - entweder ist Ernessa wirklich ein blutsaugendes Gespenst, der Geist eines Mädchen, das sich mehr als hundert Jahre zuvor umgebracht hat im Hotel Bryglaw, oder man sieht nur einem Haufen kleiner einsamer Mädchen beim Durchdrehen zu, die sich schwertun mit dem Erwachsenwerden, abgeschoben, weil ein Elternteil gestorben ist oder die Eltern sich haben scheiden lassen. Es gibt ein paar träumerische Rückblenden auf die lebende Ernessa, die um die Jahrhundertwende versucht, sich vom Selbstmord ihres Vaters zu erholen in Bryglaw - und die Frau hat tatsächlich ein Gesicht, das am besten in eine andere Zeit passt, in der Gegenwart wirkt sie seltsam deplatziert.

Die Literatur war ganz oft getrieben von der Angst vor weiblicher Sexualität und Unabhängigkeit, erklärt der Lehrer den Mädchen in "The Moth Diaries", der außer Konkurrenz gezeigt wurde. Man kann sich heute nur schwer vorstellen, dass zu Lebzeiten der Brontë-Schwestern offiziell die Romane, die die drei geschrieben hatten, als die Werke eines Brüdertrios namens Bell galten, weil so vieles da offenkundig aus weiblicher Sicht beschrieben ist. Emily Brontës "Wuthering Heights" hat Andrea Arnold nun neu verfilmt - und man fragte sich, wie die Frau, die "Fish Tank" drehte, über ein desorientiertes Mädchen im Jetzt, eine Story anpacken würde über ein Mädchen auf einem entlegenen Hof in Yorkshire des 18. Jahrhunderts. Die Antwort lautet: genauso. Sie ist auch in diesem Kostümdrama ihrem Stil treu geblieben, ihr "Wuthering Heights" ist überwiegend mit Handkamera gedreht, und sie findet in Catherine Earnshaw ein ganz ähnliches Mädchen, bockig, unwillig und unfähig, sich einzuordnen.

Um 4:44 Uhr wird alles Leben ausgelöscht

Arnold hat die Geschichte nicht modernisiert, sondern modern erzählt, hat den Roman transferiert in einen wortkargen Film von ungeheurer atmosphärischer Dichte, man kann den Nebel und die Kälte richtig fühlen. Sie erzählt die hoffnungslose Liebesgeschichte zwischen Catherine und Heathcliff, den ihr Vater auf einer Reise aufgelesen hat, angereichert mit sämtlichen Körperflüssigkeiten, die Brontë nur impliziert. Auch dass Arnolds Heathcliff farbig ist, widerspricht nicht dem Text, dunkel und fremdländisch ist er auf jeden Fall. Der Rest ist Straffung und Interpretation - Arnold konzentriert sich sehr auf all die eisige Härte, die Heathcliff widerfährt und die ihn zu einem grausamen, rachsüchtigen Erwachsenen machen wird; das tröstliche Ende, das sich eine Generation später andeutet, lässt sie weg.

Arnolds Jugendliche kommen einem jedenfalls deutlich vertrauter vor als die überkandidelten Kids, die sich der Japaner Sono Sion für "Himizu" ausgedacht hat. Ein 14-jähriges Mädchen stellt einem Klassenkameraden nach, die beiden haben gemein, dass ihre Eltern ganz fürchterliche, selbstsüchtige Menschen sind, die ihre Kinder misshandeln, ausrauben, in den Selbstmord treiben. Kurz vor Drehbeginn zerstörte der Tsunami den Nordosten Japans und das Atomkraftwerk Fukushima, und Sono Sion fand, er müsse das einbauen in seine Geschichte. Aber "Himizu", basierend auf einem Comicroman, wäre als Film ohnehin anstrengend und hektisch, mit seinen Schlägereien und dem Gekreische der Protagonisten. Die Tragödie des Tsunami aber gibt dieser Story eine viel zu große Dimension. Man versteht schon, worauf er hinaus will, man würde ihm aber wünschen, er wäre auf dem Teppich geblieben - das Bild von Japan, das er zeichnet, ist das einer durch Gier und Egoismus selbstverschuldeten Apokalypse.

Sehr viel weniger grob und aufdringlich geht dagegen der Chinese Cai Shangjun vor - sein "People Mountain People Sea" wurde als Überraschungsfilm in den Wettbewerb aufgenommen. Eine bittere Geschichte der Selbstjustiz, ein Mann jagt den Mörder seines Bruders durch die Elendsviertel Chinas. Man sieht dabei Lebensumstände jenseits all dessen, was Charles Dickens je beschrieben hat; und dass den Preis für den chinesischen Aufschwung Arbeiter bezahlen, die wie moderne Sklaven leben.

Man muss andererseits zugestehen, dass es in "Himizu" noch eine nachfolgende Generation gibt, die versucht, anders zu werden als ihre Eltern. Bei Abel Ferrara ist das Ende dagegen endgültig - um exakt vier Uhr und 44 Minuten in der Nacht wird alles Leben ausgelöscht. Noch ein Weltuntergang. Schon am Anfang dieses Festivals stand in Steven Soderberghs "Contagion" der Fortbestand der Menschheit auf dem Spiel, durch ein Virus, das sich ausbreitete. Und man erinnerte sich an "Melancholia" in Cannes, in dem Lars von Trier mit einem Meteoriteneinschlag der Erde den Garaus gemacht hatte.

Eine gewisse Endzeitstimmung macht sich breit im Kino. Was vielleicht kein Wunder ist - in Italien geht gerade die Angst um vor dem Währungscrash, Generalstreiks legen die Vaporetti in Venedig lahm, und irgendwie verliert man ja tatsächlich den Überblick über die apokalyptischen Brandherde der Welt in einem Jahr, das einen Tsunami, Fukushima, eine ekklektische Auswahl an Kriegen und sich steigernde Börsen-GAUs zu bieten hatte.

Als Abel Ferrara das Drehbuch schrieb zu "4:44", war noch die Ökokatastrophe im Fokus. Ein Mann und eine Frau, Cisco (Willem Dafoe) und Skye (Shanyn Leigh) warten auf die Megaexplosion. Im Fernsehen mahnen Al Gore und der Dalai Lama, dass wir der Welten Lauf ändern müssen. Ferraras Antwort darauf, was Menschen tun würden, wüssten sie, es ist zu spät, ist denkbar schlicht: Noch mal allen sagen, dass man sie liebt - und dabei alles falsch machen, wie vorher auch.

Im Moment wirkt das etwas dünn, aber vielleicht wird man das im 22. Jahrhundert, sofern es denn stattfindet, anders sehen. Als der Roman "Wuthering Heigths" 1847 erschien, wurde er fast ausschließlich verrissen.

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