Filmfestival Venedig:Fürchtet euch nicht

Verdämmert und verplappert: Während die italienischen Beiträge am Lido enttäuschen, hat Ben Affleck in seiner zweiten Regiearbeit verstanden, wo man eine Figur anpacken muss - an ihrer Freiheit.

S. Vahabzadeh

Das Filmfestival von Venedig wurde in den Dreißigern des vorigen Jahrhunderts erfunden, um die Saison auf dem Lido noch ein wenig zu verlängern, und es mag wohl sein, dass es damals tatsächlich noch reizvoll war auf dem Lido im September - in diesem Jahr aber, das mag dem Klimawandel geschuldet sein oder auch nicht, ist der Sommer pünktlich Ende August abgereist. Dass man sich ein wenig vorkommt, als sei man einfach zu lang geblieben, liegt nicht nur am Wetter.

Director Affleck poses during a photocall at the 67th Venice Film Festival

"The Town" erzählt von einem Flecken Erde, dessen einziger Exportschlager die Kriminalität ist. Ben Afflecks Film läuft in Venedig außer Konkurrenz.

(Foto: REUTERS)

Der Festivalpalast ist eine Baustelle, weshalb es weniger Festivalgäste gibt und kaum noch Schaulustige, das legendäre Hotel Des Bains ist geschlossen und wartet darauf, in Apartments umgewandelt zu werden - früher war im Nachtclub des Hotels immer was los, an der Pforte warteten Autogrammjäger, jetzt liegt die Uferpromenade schon abends um halb acht nasskalt, ausgestorben da. Es ist Herbst, und die Mostra, wo in diesem Jahr alles laufen sollte, was man in Cannes vermisst hat, verbreitet auch drinnen in den Kinos Endzeitstimmung . An der Anlegestelle des Lido steht eine Leuchttafel, die in die menschenleere, stille Nacht funkt: Don't be afraid of the future,of the past, of the present.

Dass mit dem griechischen Wettbewerbsbeitrag "Attenberg" nun nach Vincent Gallos "Promises Written in Water" gleich ein zweiter Bestattungsfilm lief, heitert das Publikum kaum auf, aber Athina Rachel Tsangaris Vater-Tochter-Stück ist wenigstens schön in seiner Melancholie. Ein Mann liegt im Sterben, seine Tochter, die dann ganz allein zurückbleiben wird, übt das Loslassen. Manches ist hier vielleicht spekulativ - Knutschübungen mit der besten Freundin, beispielsweise -, aber es gibt viele schöne kleine Momente; am bewegendsten jener, wenn der Sarg mit dem Vater abtransportiert wird, man sieht sie von hinten, ihre Füße, wie sie ansetzt, hinterherzurennen - als glaubte sie eine Sekunde, das könne noch irgendwas ändern.

Eine Frage des Glaubens

Dies ist ein gutes Beispiel dafür, dass ein gut inszenierter Moment manchmal wichtiger ist als ein großer Erzählbogen - man würde sich wünschen, das hätte sich herumgesprochen in die zeitgenössische italienische Kinoszene, die zwar auf diesem Festival stärker vertreten ist als je zuvor, aber wild entschlossen zu sein scheint, die in früheren Jahrzehnten erworbene Reputation restlos zu vernichten.

Zwei der italienischen Wettbewerbsfilme sind nun gelaufen, der eine ist formal interessant, macht aber nichts aus seinem Thema: Mario Martones "Noi credevamo" (Wir glaubten) handelt vom Risorgimento, drei fiktionalisierte Lebensläufe von Kämpfern in der italienischen Einigungsbewegung, der letzte schließt sich am Ende Garibaldi an, doch das gerechte Italien, von dem er geträumt hat, kommt nicht zustande. Der Film ist völlig zugeplappert, vielleicht, damit man nicht merkt, wie unfassbar uninspiriert das inszeniert und gefilmt ist - "Noi credevamo" hat in dreieinhalb Stunden keine einzige Einstellung, die für sich stehen könnte - die meisten Fernsehfilme sind liebevoller gedreht.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum ein Amerikaner den Italienern dieses Jahr die Show stiehlt.

Von einem der auszog die Freiheit zu finden

Michele Placido wiederum hat in "Vallanzasca - gli angeli del male" den echten Mailänder Gangster Renato Vallanzasca porträtiert, der schon als Kind ein ziemliches Früchtchen war, seine erste Straftat bestand darin, einen Zirkustiger freizulassen. Dann gründete er eine Bande, momentan sitzt er eine Haftstrafe von ein paar hundert Jahren ab. Der Mann führt sich auf wie ein großmäuliger Popstar, und Placido macht aus seinem Leben einen spannenden Krimi, er hat manchmal sogar schöne Bildideen - ein Drogenrausch in Jumpcuts, beispielsweise. In Italien wirft man ihm vor, er habe Vallanzasca heroisiert, in der Tat entwickelt seine Geschichte aus den Siebzigern keinen gesellschaftlichen Kontext, das lustige Gangsterleben findet in einem hermetisch verschlossenen Paralleluniversum statt.

Figuren mit und ohne Tiefgang

Wie hintergrundlos diese Figur ist, das erkennt man dann im Vergleich zu "The Town", der zweiten Regiearbeit von Ben Affleck, die außer Konkurrenz lief. Es geht um eine Gruppe Gangster in Charlestown, Boston, einem Flecken Erde, dessen einziger Exportschlager die Kriminalität ist. "The Town" beginnt mit einem Bankraub - die Truppe, unter Führung von Jem (Jeremy Renner) und Doug (Affleck selbst) hat sich gut vorbereitet, man trägt Skelettmasken und hinterlässt keine Spuren, die Bänder der Überwachungskamera wandern in die Mikrowelle der Kaffeeküche, die Filialleiterin wird als Geisel genommen und unversehrt am Fluss abgesetzt. Einerseits hat Affleck die Überfälle und die Autojagden und die Gefechte mit der Polizei mit viel Lust und Energie inszeniert; und dennoch vergisst dieser Film nie, dass seine Helden keine Zukunft haben und nie eine hatten.

Jem und Doug sind Marionetten der lokalen Bosse, die von einem Blumenladen aus operieren. Alle kennen sich von Kindheit an - aber das, was sie aneinanderkettet, hat mit Wärme oder Fürsorge nichts zu tun, man geht notwendige Allianzen ein in einem Überlebenskampf. In ein paar Sekunden charakterisiert Affleck zu Beginn seine Figuren: Jem drischt ohne Not auf einen Bankangestellten ein; Doug flüstert der Filialleiterin (Rebecca Hall) ins Ohr, dass ihr nichts passieren werde ... Was man in diesem Moment ahnt, passiert wirklich: Doug beobachtet sie, um herauszufinden, ob sie nicht doch zu viel gesehen hat - sie spricht ihn an, er verliebt sich. Nun will er raus aus Charlestown - echte Bindungen eingehen, eine Zukunft haben. Affleck hat etwas verstanden, was der Krimiprofi Michele Placido immer noch nicht begriffen hat - dass echter Suspense erst da entsteht, wo eine Figur einen richtig packt, man mit ihr um ihr Überleben fiebert, um ihre Freiheit.

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