Filmfestival Oberhausen:Risse im Asphalt

Filmfestival Oberhausen: In seinem Film "Fabric" spürt Christoph Girardet der Sehnsucht in der Fabrikation von Oberflächen nach.

In seinem Film "Fabric" spürt Christoph Girardet der Sehnsucht in der Fabrikation von Oberflächen nach.

(Foto: Festival Oberhausen)

Das 61. Filmfestival von Oberhausen vertieft sich in die Geheimnisse der experimentellen 3-D-Filme, in denen selbst Straßen ein Gesicht bekommen.

Von Hans Schifferle

"Denken Sie groß", so heißt ein Musikvideo von Deichkind, das in Oberhausen gezeigt wurde. Ein ironisches Spiel mit dem Größenwahn wird darin entfaltet, die Bandmitglieder mutieren gar zu "Transformer"-ähnlichen Riesen. "Think big", das ist in Oberhausen, diesem dichten Festival über die scheinbar kleine Kunst des Kurzfilms, durchaus auch Motto. Alle Kurzfilme werden hier nämlich auf wirklich großen Leinwänden und vor großem Publikum gezeigt, oft wahrscheinlich das einzige Mal in ihrer Existenz. Die beinahe verlorene Kunst der Größe als Wesenszug des Kinos, in Oberhausen wird sie weiter zelebriert. Die Bilder erscheinen manchmal wie befreit aus den Gefängnissen, welche die diversen Monitore von Fernsehgeräten, Tablets oder Smartphones darstellen.

Die Größe allein bewirkt oft eine Tiefenwirkung des Bildes, beinahe einen dreidimensionalen Effekt. Im großen Themenprogramm des diesjährigen Festivals wurden sämtliche Möglichkeiten der Dreidimensionalität im Kino ausgelotet. Diese Schau, die neben einigen plastischen 2-D-Filmen hauptsächlich kurze und experimentelle 3-D-Filme umfasste, wurde mit einer gewissen Neugier erwartet, aber schnell von vielen auf Kunst fixierten Kollegen als Ansammlung eines bestenfalls naiven Kinos abgetan, das in Richtung Kommerz schielt. Vielleicht kommt diese Berührungsangst daher, dass das dreidimensionale Kino, selbst das digitale, immer noch der Hauch des Kintopp umgibt, der auf den Jahrmarkt und das B-picture verweist. Kintopp und Utopie kennzeichnen das 3-D-Kino auf allen Ebenen, als wollte es nicht nur die Grenzen der Leinwand überwinden, sondern auch den scheinbaren Gegensätze von Erinnerung und Erwartung aufbrechen. "Something Might Happen" hieß bezeichnenderweise ein 3-D-Film von Timothy Geraghty, ein kleiner Thriller des Sichtbaren. Ein lustvolles, verspieltes Kino der Attraktionen präsentierte das Festival - die von Arnold Böcklin inspirierten Albtraumbilder im Sci-Fi-Märchen "Cochemare" von Chris Lavis und Maciek Szczerbowski oder die dreidimensionale Verschwommenheit in Sebastian Buerkners Melo "The Chinera of M." oder die farbige, vibrierende Wucht von Paul Sharits' bereits 1975 entstandenem Oberflächengewitter "3D-Movie", dessen Betrachtung rasch zu einem psychedelischen Trip wurde. Der schönste Film der 3-D-Reihe war vermutlich "All Slides of the Road" der Open Ended Group, ein Road Movie der besonderen Art, das eine Ahnung gibt von einer plastischen Kino-Poesie. Man sieht den verwitterten Belag eines alten Highways irgendwo in Amerika, die Risse, die die Zeit in den Asphalt gegraben hat, sind förmlich zu spüren. Die Attraktion des Dokumentarischen, die Wenders vom 3-D-Film fordert, wird hier sichtbar. Eine Straße und ihre Geschichte haben ein Gesicht bekommen.

Hier wurde sie sichtbar, die Attraktion des Dokumentarischen, die Wenders vom 3-D-Film fordert

Starke Gesichter, die den Betrachter ansprangen, jedoch im konventionellen 2D gefilmt, standen im Mittelpunkt der Filme von Jennifer Reeder, der ein Special gewidmet war. Es sind die Gesichter von Teen-Girls, stark geschminkt, aber das Make-up kann die Pickel nicht verbergen. Kriegsbemalte "wounded faces" einer Jugend, in denen sich Trotz und Verletzlichkeit mischen. Jennifer Reeder hat ihre Karriere als feministischer Postpunk begonnen mit der Exploitation-Variation "White Trash Girl". Ihre Filme, die an US-Soaps erinnern, sind auf merkwürdige und schöne Weise verquer und so jenseits von Hollywood wie von der "Twilight"-Saga, sie fangen eine aufregende Wahrheit ein über das Wesen des amerikanischen Girls, das noch in mancher erwachsenen Frau schlummert.

Der Attraktion von Gesichtern und Körpern, von Mode und Kleidern, schließlich von Strukturen und Oberflächen geht Christoph Girardet in "Fabric" nach, dem gewiss besten Film der Deutschen Reihe. Girardet montiert grandioses aussortiertes Schnittmaterial für einen holländischen Industriefilm über Viskose aus den späten Vierzigerjahren zu einem imaginären Melodram, das sich in einem hypnotischen Rhythmus entfaltet. Film aus Film, Neues aus Altem, Visionäres aus Vergessenem. Girardet spürt der Sehnsucht in der Fabrikation von Oberflächen nach.

Und noch ein kleiner Film überzeugte, der aus Überbleibseln entstand: "Erstschlag" (Musik: Steril), ein Musikvideo von Konrad Hirsch, dem Geschäftsführer der Schamoni Film- und Mediengesellschaft, die sich um das Erbe der legendären, auch in Oberhausen einst aktiven Schamoni-Brüder kümmert. "Erstschlag" ist eine Montage aus Ausschnitten der Schamoni-Produktion "Jetzt und Alles", die 1981 mit Richy Müller von Yello-Mastermind Dieter Meier gedreht wurde. Eine Hommage also an diesen Berliner New-Wave-Film, Wiederaufnahme abgetrennter Stränge deutscher Filmgeschichte. Ein Zukunftsfilm, in der Vergangenheit wiedergefunden, über die Bedingungslosigkeit des Kinos. Jetzt und alles!

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