Filmfestival Locarno:Uns geht's allen fabelhaft

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Kein Meisterwerk war in diesem Jahr beim 58.Filmfestival in Locarno zu sehen, dafür viel Halb- oder Dreiviertelgelungenes. Die deutschen Beiträge kamen dabei gut weg.

Martina Knoben

Ob Locarno sich wohl behaupten kann? Ob es in Zukunft mehr sein wird als ein Provinzfestival... Einer, der es wissen muss, der Hotelier, ist skeptisch. Zu einem solchen Ereignis, doziert er, gehörten ja auch Hotels, die nötige Infrastruktur.

Darsteller Alexander Beyer, Produzent Martin Cichy, Regisseur Florian Hoffmeister und Drehbuchautorin Mona Kino mit Tochter Liv Hoffmeister (von links) freuen sich über den Silbernen Leoparden für "3 Grad kälter". (Foto: Foto: AP)

Und eines der größten Probleme Locarnos, das konnte man in allen regionalen Zeitungen lesen, bedeutet die Schließung mehrerer Traditionsunterkünfte - im nächsten Jahr vermutlich auch das Grand Hotel -, in denen sich ein Großteil des Festival(nacht)lebens abspielte. So wurde bereits über eine Ausweitung des Filmfests ins nahgelegene Ascona spekuliert.

Eine atmosphärische Störung ist das, mehr nicht - aber solche Störungen muss man in Locarno unbedingt ernst nehmen. Sein besonderer Charme, seine Atmosphäre sind immer noch die besten Trümpfe, die dieses kleinste der großen Filmfestivals hat - und da steckt der Teufel bekanntlich im Detail.

Am Ende zu viel Arbeit

Irene Bignardi, die fünf Jahre lang künstlerische Direktorin in Locarno war, wurde die Arbeit am Ende zu viel. Aus persönlichen Gründen wolle sie aufhören, hatte sie vor etwa zwei Monaten angekündigt.

Mit standing ovations wurde sie dann zum Abschluss am Samstag auf der Piazza Grande verabschiedet. Ihr Nachfolger, das hat das Verwaltungsgremium am Sonntag entschieden, wird Frédéric Maire, Ko-Leiter und Mitbegründer der "Zauberlaterne", eines Schweizer Filmclubs für Kinder. Der Filmjournalist und Regisseur aus Neuenburg hat seit 1986 immer wieder in Locarno gearbeitet: unter anderem als Verantwortlicher der Festivalzeitschrift Pardo News, als Leiter des Pressedienstes und Mitglied der Programmkommission.

Maire setzte sich am Ende gegen Jean Perret durch, den Leiter der "Visions du Réel" in Nyon, der diesem Dokumentarfilmfestival ein unverwechselbares Profil gegeben hat.

Kühne Phantasie

Die Positionierung und Profilierung des Festivals wird auch die größte Aufgabe des neuen Leiters in Locarno sein. Von der Verwandlung in ein europäisches Sundance träumt man dabei - eine kühne Phantasie angesichts der Festivallandschaft hierzulande.

Eingeklemmt zwischen Cannes und Venedig hat es Locarno zunehmend schwer, gute Filme zu bekommen. Es war wohl auch deshalb kein starker Wettbewerb, den Irene Bignardi zum Abschied präsentierte.

Kein Meisterwerk war in diesem Jahr in Locarno zu sehen, dafür viel Halb- oder Dreiviertelgelungenes. Dass es aber nicht unbedingt die besten Filme sind, die die nachhaltigsten Eindrücke hinterlassen - auch das konnte man in Locarno erleben.

Gar nichts Tröstliches

"Riviera" etwa, der zweite Spielfilm der Dokumentaristin Anne Villacèque, darf in seiner Gesamtheit als misslungen gelten - aber seine erste halbe Stunde ist in ihrer Schönheit und Melancholie unbedingt sehenswert: Miou-Miou spielt ein Zimmermädchen, Elie Semoun ihre Tochter, eine Go-go-Tänzerin. Lange Brennweiten sperren die beiden Frauen in Schutz- und Isolationsblasen ein, aus denen sie nicht entkommen können. An Elie Semoun kann sich diese Kamera gar nicht sattsehen, dabei hat ihre Schönheit so gar nichts Tröstliches.

Viele Filme dieses Wettbewerbjahrgangs waren Studien der Einsamkeit; erzählten von Müttern, die sich mit ihren Töchtern nicht verstehen; von abwesenden Vätern; von Söhnen, die sich wegwünschen. Manche Filmfestivals entwickeln spontan eine Art übergreifendes Thema - in Locarno wurde im Wettbewerb immer wieder von äußerlich starren, innerlich jedoch vibrierenden Verhältnissen erzählt.

In seinem ersten Spielfilm "Ma Hameh Khoubim - We Are All Fine" erkundet der Iraner Bizhan Mirbaqeri die Folgen der Emigration des ältesten Sohnes für seine Familie - im Iran ist Emigration ein brennendes Thema. Was bedeutet es für die Zurückgebliebenen zu warten, ohne Nachricht? Welche Entwicklung nimmt diese festgesetzte Familie? Formal gibt sich der Film bescheiden, die Figurenzeichnung aber ist genau und spannend.

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"We Are All Fine" wurde mit einem Silbernen Leoparden für den ersten oder zweiten Spielfilm ausgezeichnet - er teilt sich den Preis mit Florian Hoffmeisters artifiziellem Beziehungsstück "3kälter", der eine ganz ähnliche Geschichte erzählt.

Man könnte die Filme leicht gegeneinander ausspielen: die raffinierte Bescheidenheit des Iraners gegen die Überladenheit und den Kunstwillen des Deutschen. Dass die Jury dies nicht getan hat, spricht vielleicht für ihre Unentschiedenheit - in jedem Fall aber hat sie damit Filme gewürdigt, die sich der Gegenwart ihres Landes verpflichtet fühlen.

Die deutschen Filme sind dabei gut weggekommen: Einen weiteren Silbernen Leoparden gab's für Yilmaz Arslans grimmig-brutales Immigranten-Drama "Fratricide", eine deutsch-luxemburgisch-französische Koproduktion. Und Romuald Karmakars Musikdokumention "Between the Devil and the Wide Blue Sea" war der Video-Jury immerhin eine besondere Erwähnung wert.

Unerträgliche Ausweglosigkeit

Vielleicht ist der Frust, den manche Kritiker bei diesem Festival empfunden haben, nur zum Teil in den Filmen, zum Teil eben auch in den beschriebenen Strukturen begründet. "Es ist oft unerträglich, eine einzelne Figur zwei Stunden lang in ihrer Ausweglosigkeit zu ertragen", hat Rodrigo García zu seinem Film "Nine Lives" erklärt - und sich deshalb für einen Episodenfilm entschieden.

"Nine Lives", der von entscheidenden Momenten im Leben von neun Frauen erzählt, war der große Gewinner in Locarno. Er wurde mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet; das hervorragende Ensemble der Schauspielerinnen - Kathy Baker, Amy Brenneman, Elpidia Carrillo, Glenn Close, Lisa Gay Hamilton, Holly Hunter, Sissy Spacek, Amanda Seyfried, Robin Wright Penn - bekam den Leoparden für die beste Darstellerin.

Festgefahrene, dabei vor Energie fast außer Kontrolle geratene Verhältnisse auch hier - die Kamera kann gar nicht stillhalten. Mit der Steadycam folgt García, übrigens der Sohn von Gabriel García Márquez, in langen Plansequenzen seinen Figuren.

Verräterische Körpersprache

Er hat früher als Kameramann gearbeitet, sein erster Spielfilm hieß "Things You Can Tell Just by Looking at Her", ein wunderbares allerdings weitgehend übersehenes Debüt. Mit diesem Titel wäre auch sein neuer Film gut überschrieben - man kann alles erkennen, wenn man nur genau hinsieht: García blickt die Frauen zärtlich und aufmerksam an - und entdeckt, was sie verschweigen, aber mit ihrer Körpersprache offenbaren.

© SZ vom 16.08.05 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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