Filmfestival in Venedig:Sex und Scham

Ein trauriges Riesenbaby, ein gefühlskalter Yuppie, eine alte Spionage-Geschichte und das teuerste Loch der Welt: Venedig hält uns mit seinen neuen Filmen den Spiegel vor.

Susan Vahabzadeh

Bei schlechtem Wetter sehen die Dinge grundsätzlich hässlicher aus als in glitzerndem Sonnenschein - auch die riesige Baustelle rund um den Festivalpalast auf dem Lido. Die Pläne für den neuen Palazzo wurden inzwischen verworfen: 37 Millionen Euro waren schon bereitgestellt, 99 Millionen sollten noch folgen, aber daran ist in Italiens Krise kein Denken mehr. Nun könnte man glauben, mit 37 Millionen hätte man doch einen bescheideneren Palazzo bauen können. Aber nein. Es sei Asbest gefunden worden bei der Ausschachtung, hieß es letzten Sommer, was die Arbeiten erschweren und die Kosten erhöhen würde.

68th Venice Film Festival - Shame Photocall

Der deutsch-irische Darsteller Michael Fassbender stellt auf dem Filmfestival in Venedig seinen neuen Film "Shame" vor. Er spielt darin einen gefühlskalten Yuppie aus New York.

(Foto: dpa)

Der aktuelle Stand: Von den 37 Millionen ist fast nichts mehr übrig, und es gibt nichts als einer Grube - das teuerste Loch der Welt. Eingezäunt natürlich, eine blickdichte Abschottung gegen Schaulustige. Für ein Festival, das gerne seine Stars auf dem roten Teppich herzeigt, ist so was ein Debakel. Die Sicherheitsvorkehrungen, die seit 11. September 2001 beim Festival in Venedig geherrscht haben (und in Cannes immer noch herrschen), sind indes wohl aufgehoben. Als müsste jeder Terrorist, der das Festivalgelände auskundschaftet, glauben, eine andere Zelle wäre hier schon am Werk gewesen.

Wie wird ein Filmemacher aus dem Abstand von vierzig Jahren unsere heutige Zeit beschreiben, wie der Krieg gegen den Terror im letzten Jahrzehnt in unseren Alltag sickerte, wie eine Abfolge von Wirtschaftskrisen jede Vision von Zukunft lahmlegte? Tomas Alfredson hat eine vierzig Jahre alte Story, John le Carrés "Tinker, Tailor, Soldier, Spy", mit Gary Oldman und Colin Firth verfilmt, eine Spionage-Geschichte aus dem Kalten Krieg, und diese schlichte Aufteilung in zwei klar umrissene Systeme, die sich gegenseitig zu sabotieren versuchen, kommt einem heute fast romantisch vor. Alfredson inszeniert das als Kostümfilm so, wie Stephen Frears das 18. Jahrhundert filmt - das ist eine Art, zu zeigen, dass man etwas als geschlossenes Kapitel der Geschichte betrachtet.

Das Drehbuch verzettelt sich leider in viel zu vielen Handlungssträngen, und Oldman spielt eigentlich nicht Smiley, sondern Alec Guinness als Smiley, in der früheren Verfilmung. Als Film über die frühen Siebziger aber ist das großartig, mit viel Gefühl fürs Detail hat Alfredson braun-orange-geflieste Besprechungsräume dekoriert und setzt liebevoll gemusterte Kaffeetassen ins Bild. Am Anfang sieht man nachgemachten Ostblock, ein Café in einer alten holzgetäfelten Einkaufspassage in Budapest - ein faszinierender Moment: Jede Ära drückt eben auch der Vergangenheit ihren eigenen Stempel auf.

"Tailor, Tinker. . ." lief im Wettbewerb, obwohl er dafür eigentlich zu konventionell ist. Im Gegensatz dazu experimentiert Todd Solondz ("Happiness", "Palindromes") mit Wahrnehmung und mit Erzählstrukturen - und zugegeben: Seine radikalsten Stücke sind außerhalb von Festivals kaum gezeigt worden. "Dark Horse", sein neuer Film, nimmt sich ein wenig zurück, auch wenn er den unverkennbaren, sarkastischen, tragikomischen Solondz-Tonfall hat. Es geht um ein zu groß geratenes Kind, einen Mann, der mit fast vierzig noch bei seinen Eltern (Mia Farrow und Christopher Walken) wohnt und nichts auf die Reihe bringt. Wenn Mia Farrow in einer Traumsequenz in süßlich irrem Tonfall zu ihrem Riesenbaby sagt: "Aber dich haben wir längst abgeschrieben, jeder außer dir weiß, dass du ein Verlierer bist" - dann ist das Lachen an der Schmerzgrenze.

Menschen hinter Glas

Alles was Solondz an Emotion fehlt und Gary Oldman an subtilem Spiel - das findet sich dann in Steve McQueens "Shame" mit Michael Fassbender. Der spielt im Grunde auch einen Verlierer, einen eisigen Yuppie in New York - und man leidet einen Film lang mit ihm mit. Brandon ist in fast jeder Hinsicht funktionstüchtig, von außen betrachtet, aber er kann keine Bindung an andere Menschen aushalten, also flüchtet er in schnellen Sex mit Unbekannten oder hält die Distanz mit Pornos auf dem Computer aufrecht.

Die unterdrückten Gefühle, die Verzweiflung unter der Oberfläche, die kann man bei Fassbender in jedem Moment spüren, dabei sind selbst seine Wutausbrüche hart, schnell, kontrolliert. Sie richten sich gegen seine Schwester (Carey Mulligan), die sich bei ihm einnistet. Er will sie nicht lieben, er hasst es, dass sie ihre Schwächen zeigt, erstickt an ihrer Zuneigung. Ein trauriges Paar. Einmal singt Carey Mulligan eine unfassbar traurige Version von "New York, New York": "If I can make it there . . ."

Wenn jemand aus dem Theater, oder wie der Brite McQueen aus der bildenden Kunst ins Kinofach wechselt, kommen meist mit Mätzchen überfrachtete Filme heraus, als müssten jetzt alle Möglichkeiten des Kinos erst mal ausprobiert werden. Steve McQueen tut genau das nicht, er hat zwar jedes Bild durchkomponiert - unerotische Sexszenen in kalten Räumen gegen warme Musik -, aber unaufdringlich und subtil, in einem ganz natürlichen Fluss.

Wie ein Zoologe analysiert er - "Hunger" hieß sein erster Film, über die IRA - grundsätzliche menschliche Mechanismen und Emotionen. Immer wieder sieht man die Menschen in "Shame" hinter Glas, in einem Restaurant, durch die Schlafzimmerfenster ihrer Häuser. McQueen schaut uns dabei zu, wie uns unsere Freiheit zwischen den Fingern zerrinnt.

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