Filmfestival in Venedig:Die Stunden der Eule

Die venezianischen Chaostage am Lido sind vorbei. Was bleibt, ist etwa die Erinnerung an starke Auftritte von Miramax-Chef Harvey Weinstein und Nicole Kidman.

Von Susan Vahabzadeh

Langsam kehrt Ruhe ein am Lido, die Helden aus Hollywood sind fast alle abgereist in Richtung Deauville. Jonathan Glazers "Birth", der wegen eines Kusses zwischen Nicole Kidman und einem zehnjährigen Jungen im Vorfeld mehr Furore machte als bei der ersten Vorführung, ist der letzte große amerikanische Auftritt.

Filmfestival in Venedig: Eindrucksvolle Starparade mit einigen Abstimmungsschwierigkeiten: Festivaldirektor Marco Müller.

Eindrucksvolle Starparade mit einigen Abstimmungsschwierigkeiten: Festivaldirektor Marco Müller.

(Foto: Foto: AP)

Marco Müllers Superaufgebot war zwar eindrucksvoll, aber dass alles prima gelaufen wäre am roten Teppich und um ihn herum, kann man nicht behaupten. Die erste Hälfte der 61. Mostra war im Begriff, als die venezianischen Chaostage in die Festivalgeschichte einzugehen. Den Samstag hat selbst der Festivaldirektor Doomsday getauft - da hatten sich die Verspätungen so kumuliert, dass die letzte Vorführung um viertel nach zwei losging statt um viertel vor zwölf.

Weinsteins Zeit-Kritik

Viele Leute waren es nicht, die so lange durchgehalten haben, aber einer war noch da: der Produzent des sehr späten Films, "Neverland", Miramax-Boss Harvey Weinstein. Weinstein, für seine Wutausbrüche berüchtigt, hatte am Nachmittag auf der Terrasse des Excelsior schon einen aggressiven Gesichtsausdruck - aber vielleicht ist das normal. Nachts war er jedenfalls aggressiv.

Die wenigen Zeugen der "Neverland"-Premiere berichten, dass er folgende Begrüßungsansprache hielt, nachdem er Kate Winslet und Johnny Depp in den Saal geschoben hatte: "Willkommen zur Frühstücksvorstellung von ,Neverland'. Heute morgen wird Ihnen Herr Müller Croissants servieren und ich bringe ihm die Bedeutung des Wortes timing bei. Dann werde ich ihn in der Lagune ertränken, mit den Füßen in einem Zementblock."

Eine wirklich hübsche Einleitung, aber er hatte ja auch Zeit genug, sie sich zu überlegen. Müller nimmt's einstweilen gelassen, als habe er sich den Leitsatz des italienischen Wettbewerbsbeitrags "Lavorare con lentezza" zu Herzen genommen: Don't stop the creative flow.

Radiotage

In "Lavorare" geht es um einen Piratensender in Bologna in den Siebzigern, auch ein Beitrag zum Thema Chaostage: Jugendliche in Bologna, die sich der Revolution verpflichtet fühlen, und wenn sie nicht gerade für die örtlichen Gangster einen Tunnel graben, machen sie Radio; wobei das Resultat keinen überrascht, der je eine Folge Harald Schmidt gesehen hat.

Der Film ist nicht immer gelungen, aber er bleibt die ganze Zeit seinem Motto treu. Guido Chiesa hat all Einfälle dort unsortiert reingepackt, mal gibt es Stummfilmsequenzen, dann wieder sieht alles ein bisschen aus wie Hausbesetzer-MTV, und ein paar Siebziger-Splitscreens gibt es auch noch.

Die italienischen Kritiker waren ziemlich begeistert davon. Noch mehr lieben sie den japanischen Wettbewerbsbeitrag "Howl's Moving Castle" über eine verzauberte Frau, die Unterstützung sucht bei einem Magier, eine Zeichentrick-Geister-Geschichte vom "Spirited Away"-Regisseur Hayao Miyazaki. Tagelang führte der Film den Kritikerspiegel an, aber ob dieser bizarre Wunsch nach Realitätsferne erhört wird von der Jury? Der Eierschalen essende Feuerdämon hätte zwar eine Coppa Volpi verdient und "Howl" ist wunderschön, aber irgendwie nicht von dieser Welt, so eine Art Ufo unter den Filmen.

Die Stunden der Eule

Der Exotenlöwen

Filmfestival in Venedig: Eine Klasse für sich: Claude Chabrol mit Laura Smet

Eine Klasse für sich: Claude Chabrol mit Laura Smet

(Foto: Foto:)

Es ist schwer vorstellbar, dass in einem Jahr, das schon einen Bären für "Gegen die Wand" und eine Palme für "Fahrenheit 9/11" hervorgebracht hat, nun noch ein solcher Exotenlöwe zur Welt kommt. Als Jonathan Glazer sich für das Drehbuch von "Birth" mit Jean-Claude Carrière ("Belle de Jour") und Milo Addica, der "Monster's Ball" geschrieben hat, zusammentat, hat er sicher auf Löwenmaterial gehofft. Die Story - ein Kind taucht bei einer wohlhabenden New Yorkerin (Nicole Kidman) auf und bittet sie, nicht wieder zu heiraten, denn er sei ihr verstorbener erster Mann - ist gefährlich: Es ist bald klar, dass der Junge das wirklich glaubt, und sie glaubt ihm auch.

Man fragt sich, wie Glazer da elegant wieder herauskommen will. Er schafft es nicht. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto unausgegorener wirkt sie. Die als Skandal angekündigte Szene, in der Kidman und der Junge gemeinsam in der Badewanne sitzen, ist aber trotzdem sehr schön, obwohl sie sich als harmlos erweist. Am besten ist der Film immer dann, wenn er sich darauf konzentriert, wie Kidman in den Augen des Kindes den Mann zu sehen versucht, den sie liebt, und Glazer darauf verzichtet, Dramatik durch bedeutungsvolles Schweigen oder Wutausbrüche zu erzeugen.

Bei Claude Chabrol geht es sozusagen ums Gegenteil, um den Triumph der Oberfläche über das Innenleben - ein Mann liebt eine Frau, so wie er die Skulptur liebt, die er im Arm hält, wenn er einschläft; aber was er manchmal in ihren Augen findet, wenn er nur genau hinschaut, lässt ihn zurückschrecken. Chabrol, hier außer Konkurrenz, ist eine Klasse für sich und hat auf seine alten Tage noch mal eine große Freude am Grusel entwickelt.

Seine letzten Filme mögen ein wenig heimelig gewesen sein, man hat sich an seine bourgeoisen Monster gewöhnt. Aber seine Brautjungfer, die titelgebende "Demoiselle d'honneur", ist wieder richtig fies: Philippe (Benoît Magimel) verknallt sich in Senta, die Brautjungfer seiner Schwester. Ein eigenwilliges Mädchen, das sich sofort die Kleider vom Leib reißt und ihn zu ihrem Schicksal erklärt, zur großen Liebe. Sie wohnt im Keller einer halb verfallenen Villa, und irgendwie ist klar, dass es einen Grund geben muss, warum es ihr oben nicht gefällt...

Und dann verlangt sie, er solle zum Beweis seiner Liebe irgendwen umbringen - eine hässliche Form des amour fou. Überhaupt sind hier alle verliebt, die Mutter unglücklich, die Schwester und ihr Mann ein bisschen animalisch und Chabrol ins Filmemachen. Manchmal filmen alte Männer junge Liebe auf eine schmierige Art; bei Chabrol aber wirkt nichts unangenehm lüstern. Einmal fallen die Schwester und ihr Mann übereinander her, während sich Philippe gerade wegdreht, voller Übermut - die Szene sieht aus, als lebte sie von einer glücklichen Erinnerung ans Jungsein.

Mehr kann man als Filmemacher nicht erreichen, nicht mal mit einem Löwen auf dem Kaminsims.

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