Filmfestival in Cannes:Woody Allen weiß die Antwort

Filmfestival in Cannes: Trotz bizarrer Umgebung: Colin Farrell und Rachel Weisz sind wie alle anderen in "The Lobster" auf der Suche nach der wahren Liebe.

Trotz bizarrer Umgebung: Colin Farrell und Rachel Weisz sind wie alle anderen in "The Lobster" auf der Suche nach der wahren Liebe.

(Foto: Festival)

Natalie Portman trägt Dior, Woody Allen zeigt Professorenfrust, bei Giorgos Lanthimos werden Singles gejagt: Auf der Suche nach dem roten Faden von Cannes.

Von Tobias Kniebe

Die wichtigste und zugleich absurdeste Übung, wenn man aus Cannes berichtet, ist die Suche nach dem roten Faden. Was müsste der nicht alles verbinden: die Applauswellen im Grand Theatre Lumière, die während der Vorführung von George Millers unbarmherziger Wüsten-Autorallye "Mad Max" immer wieder aufbranden; das besondere Glitzern der Bucht, wenn ein strammer Südwind über die Croisette fegt; die Bildermoral eines ungarischen Films, der in den Gaskammern von Auschwitz spielt; und das knallrote Dior-Kleid, in dem Natalie Portman die Eröffnungsgala besucht hat. Dass letzteres sogar mehr als einen roten Faden enthielt, ist zwar keine Frage. Aber man müsste es schon komplett auftrennen und auseinanderwickeln, um all die disparaten Eindrücke der ersten Tage zu verknüpfen.

Was also tun? Die Antwort erscheint unmöglich und kommt am Ende doch, und sie ist tatsächlich der Lebensphilosophie im Film von Woody Allen zu verdanken. Aber dazu später.

Zunächst muss es um die Lebensphilosophie von Giorgos Lanthimos gehen, der so etwas wie der Mastermind des neuen griechischen Kinos ist. Die Griechen verblüffen die Welt der Filmkunst schon seit ein paar Jahren mit Kargheit, Bosheit, Surrealismus und Humor - alles Eigenschaften, die inzwischen offiziell zur griechischen Staatsräson erklärt wurden. Mit Lanthimos' Film "Dogtooth" ging 2009 in Cannes alles los, und jetzt kehrt er zurück, aber als Weltregisseur. Sein neues Werk "The Lobster" wurde in einer dystopischen Zukunft gedreht, die äußerlich sehr an die Küste Irlands erinnert, und die Schauspieler - darunter Colin Farrell, Léa Seydoux, Rachel Weisz und John C. Reilly - sprechen hauptsächlich Englisch, aber auch mal Französisch.

Mit "The Lobster" hat Lanthimos sich offenbar vorgenommen, einen Film über die Liebe zu drehen, und in der Verdrehung aller Werte, die eines seiner Stilmittel ist, hat er dabei erst einmal die liebesfeindlichste Umgebung geschaffen, die man sich vorstellen kann: ein Hotel, in das alle Singles einer Überwachungsgesellschaft zwangsweise verbracht werden, um innerhalb von 44 Tagen einen neuen Partner zu finden - andernfalls sollen sie in ein Tier ihrer Wahl verwandelt werden, das dann in freier Wildbahn eine weitere Chance auf Fortpflanzung bekommt.

Filmfestival in Cannes: Energieschub durch Mord? "Irrational Man" mit Emma Stone und Joaquin Phoenix gerät aufs Terrain von Schuld und Sühne.

Energieschub durch Mord? "Irrational Man" mit Emma Stone und Joaquin Phoenix gerät aufs Terrain von Schuld und Sühne.

(Foto: Festival)

Wer nun vermutet, dass hier der unbedingte Paarungswille einer Ü40-Party herrschte, liegt falsch. Alle suchen selbst hier im Grunde nach der wahren Liebe. Andererseits sind die Tests, die eine neugefundene Beziehung überstehen muss, so brutal, dass alles andere sowieso keinen Bestand haben würde - wie der von seiner Frau verlassene David (Colin Farrell) nach einem gescheiterten Täuschungsversuch erkennen muss. Er flieht in die Wälder, wo die "Loner" leben, Gesetzlose und bekennende Singles, die von der Gesellschaft gejagt werden. Dort aber sind die Regeln umgekehrt mindestens genauso hart - schon auf Flirten steht die Strafe der Verstümmelung. So seltsam (und auch lustig) sich das alles anhört, so gut versteht es der Regisseur dann doch, seinem Gedankenspiel eine klaren Fokus zu geben - am Ende zeigt der Film überzeugender als jede Romantic Comedy, dass die Liebe wirklich immer ein Spiel mit höchstem Einsatz ist.

Der Sprung zu den nächsten Filmen wird jetzt aber schon kompliziert. Zur Eröffnung der Nebenreihe "Un Certain Regard" gab es zum Beispiel einen Kurs in Zuckerbäckerei, eine Art Lehrfilm zur Herstellung einer traditionellen japanischen Köstlichkeit namens "Dorayaki". Die wird in "An/Sweet Red Bean Paste" praktisch in Echtzeit gezeigt, besonders die süße Paste aus roten Bohnen, die dem Film seinen Titel gibt. Sie ist offenbar ein Mysterium, das auch dem Besitzer einer winzigen Bäckerei in Tokio zunächst verschlossen bleibt - bis eine geheimnisvolle Greisin mit verkrüppelten Händen seine Lehrmeisterin wird. Ihr Schicksal verändert das Thema des Films, es geht schließlich um die Ausgrenzung der Leprakranken in Japan - der bisher zugänglichste Film von Cannes-Dauergast und Naturmystikerin Naomi Kawase. Was sie aber durch stilles Hinschauen aufbaut, macht sie auf der anderen Seite mit viel zu viel Kirschblüten-, Mond- und Kanarienvogel-Metaphern fast wieder kaputt.

"Ich würde sie alle noch einmal neu drehen."

Woody Allen über seine Filme - er sei nie mit ihnen zufrieden, und wenn er könnte, würde er sie alle überarbeiten, sagte der Regisseur beim Filmfestival in Cannes. Allen hat dort seinen neuen Film vorgestellt, "Irrational Man".

Stilles Hinschauen war auch das Motto des rumänischen Familienvaters in "Un Etaj Mai Los/ One Floor Below" von Radu Muntean. Der interessiert sich sehr für die geräuschvolle und gewaltgeladene Affäre einer jungen Frau aus seinem Mietshaus, bis die plötzlich tot in ihrer Wohnung gefunden wird. Danach wird er von der Polizei befragt, sagt aber nichts über den Nachbarn aus dem zweiten Stock, der nur der Mörder sein kann - und man versteht nicht wirklich, warum. Auch der Mörder selbst nicht, der nun seine Nähe sucht und ihn sogar zur Rede stellt. Ein radikales Konzept der Ich-AG im neuen, EU-konformen Rumänien? Jeder nur noch für sich und auf eigene Rechnung, und dem Staat gegenüber wissen alle von nichts? So könnte man spekulieren, aber der Film gibt da wenig Halt.

Energieschub durch Mord? Funktioniert zumindest bei "Irrational Man"

Erschreckend klar dagegen das Konzept von "Saul Fia/Son of Saul" von László Nemes aus Ungarn, ein erstaunliches Regiedebüt. Seine Handkamera folgt den ganzen Film über einem Mann - und meistens so dicht, dass seine Umgebung sich in Unschärfe auflöst. Vielleicht ist das auch der einzige Weg, die Sache überhaupt zu zeigen, denn er ist einer der jüdischen Helfer in den Gaskammern von Auschwitz - Teil jener "Sonderkommandos", die sich zwischen Leichenbergen und Krematorien krummarbeiten, bis sie selbst in den Tod geschickt werden.

Um ihn herum wird ein bewaffneter Aufstand geplant, er aber interessiert sich nur für eine Kinderleiche, in der er seinen Sohn zu erkennen glaubt, versteckt sie vor den SS-Wachen und will sie mit Hilfe eines Rabbis anständig begraben. In dieser Umgebung, wo jeder Schritt aus der Reihe den sofortigen Tod für die ganze Gruppe bedeuten kann, wirkt sein Plan hoffnungslos irrational und seltsam angemessen zugleich - wie der maximale Widerstand gegen die Rationalität des industriellen Massenmords um ihn herum. Aber wie hängt das alles nun wirklich zusammen, und wo knüpft es auch noch an "Irrational Man" an, den neuen Film von Woody Allen, der hier außer Konkurrenz seine Weltpremiere feiert?

Philosophieprofessor Phoenix rät: Seht der schmutzigen Wahrheit ins Gesicht

Die Antwort gibt Allen mit seiner Figur des zynischen, haltlosen und im Grunde lebensmüden Philosophieprofessors Abe Lucas (Joaquin Phoenix), der an ein kleines Provinzcollege in Rhode Island kommt, nachdem all seine sonstigen Hoffnungen im Leben offenbar gescheitert sind. Er tritt vor seine Studenten und sagt ungefähr dies: Wenn ihr mit absurden Ansprüchen konfrontiert seid, die von der Theorie an euch gestellt werden - etwa von Kants kategorischem Imperativ - gebt einfach zu, dass ihr sie nicht lösen könnt, und seht der schmutzigen Wahrheit des Lebens ins Gesicht.

Nun gut, denkt man da, was die Sache mit dem roten Faden von Cannes betrifft: Die schmutzige Wahrheit ist, dass hier eine Reihe mehr oder weniger gelungene Filme gezeigt werden, die zufällig etwa zur selben Zeit fertig geworden sind und dem Auswahlkomitee um Festivalchef Thierry Frémaux gefallen haben. Zum Teil sind sie beinahe absurd unterhaltsam, zum Teil sind sie beinahe absurd unzugänglich, zum Teil stecken sie wirklich voller Erkenntnisse, und großteils liegen sie irgendwo dazwischen. Das alles findet in wunderschöner Umgebung und in Anwesenheit wunderschöner Stars statt, und mehr kann man im Grunde nicht sagen. Es verbindet diese Filme und Dinge: nichts.

Filmfestival in Cannes: Woody Allens neuer Film "Irrational Man" feiert in Cannes außer Konkurrenz seine Weltpremiere.

Woody Allens neuer Film "Irrational Man" feiert in Cannes außer Konkurrenz seine Weltpremiere.

(Foto: Festival)

Die Lehre, die Philosophieprofessor Abe Lucas aus der schmutzigen Wahrheit des Lebens zieht, ist dann allerdings wieder sehr originell - er stellt fest, dass es unheimlich vitalisierend sein kann, den perfekten Mord an einem schlechten Menschen zu planen. Mit dieser neugefundenen Lebensenergie kann er plötzlich wieder Sex haben und bezaubert gleich zwei begehrenswerte Frauen auf einmal, die von Emma Stone und Parker Posey gespielt werden. Und dann stellt er fest, dass sich die Sache sogar nach dem perfekten Mord noch gut anfühlt.

Damit ist der Film auf dem Terrain von Schuld und Sühne, Schicksal und Zufall, das Woody Allen alle paar Jahre gern wieder aufsucht, etwa mit "Verbrechen und andere Kleinigkeiten" oder "Match Point" - und dabei jedes Mal, so scheint es, noch ein bisschen besser und präziser wird. Insofern könnte man abschließend festhalten, dass es rote Fäden zwar wirklich schwer haben, in der Welt und besonders im Trubel von Cannes - aber in Woody Allens Kopf existieren sie dann eben doch.

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