Filmfestival in Cannes:Geister aus dem Cineasten-Himmel

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Blues am Pool: In Paolo Sorrentinos "Youth" leiden alternde Kulturschaffende an der Gegenwart, zu exquisiten Bedingungen. (Foto: Festival)

Sehnsucht nach dem Glanz von gestern: Der Dokumentarfilm "Hitchcock/Truffaut" und Paolo Sorrentinos "Youth" liefern endlich Stoff für die Nostalgiesüchtigen.

Von David Steinitz

Audrey Hepburn! Oder ist das vielleicht nur ein Sonnenstich in der Hitze von Cannes?

Auf der Dachterrasse des Festivalpalasts, wo man einen unverschämt schönen Blick auf die unverschämt schönen Menschen am Strand und das glitzernde Meer hat, sitzt ein Mädchen und trinkt grünen Tee. Es trägt ein schwarzes Audrey-Kleid, hat die Haare zum strengen Audrey-Dutt zurückgebunden - und für eine fiebrige Festivalsekunde sieht es so aus, als würde es sich gleich die legendäre Zigarettenspitze aus "Frühstück bei Tiffany's" zwischen die Lippen legen.

Es handelt sich dann aber doch um die amerikanische Jungschauspielerin Rooney Mara, die seit ihrem Durchbruch in David Finchers "Verblendung" zu Hollywoods großen Star-Hoffnungen gehört. In Cannes ist sie mit der Patricia-Highsmith-Verfilmung "Carol" im Wettbewerb vertreten. Für ihren Auftritt als unbedarftes junges Mädchen, das sich im New York der Fünfzigerjahre auf eine lesbische Liebesbeziehung einlässt, wird sie als heiße Kandidatin auf den Preis für die beste Darstellerin gehandelt.

Wenn man Mara dann in kleiner Interview-Runde nach der Audrey-Ähnlichkeit fragt, lacht sie mit dem schönsten Audrey-Lachen auf, irgendwo zwischen schüchtern und frivol, und erklärt: "Das muss etwas mit der Fifties-Aura unseres Films zu tun haben, die scheint abzufärben. Vor "Carol" bin ich nie mit ihr verglichen worden, in den letzten Tagen höre ich das ständig."

Was vielleicht damit zu tun haben könnte, dass die Zuschauer in Cannes sich in diesem Jahr besonders nach dem großen alten Glanz des Kinos sehnen, während das Festival in seine Schlussphase startet. Weil der Wettbewerb neben ein paar ganz hübschen Beiträgen wie "Carol" bislang eher in französischer Sozialdrama-Tristesse vor sich hindümpelt, steigt die Sehnsucht nach dem ganz großen Kinoglück.

Als Übersprunghandlung flüchtet man sich in Audrey- Hepburn-Fantasien - oder zu anderen Legenden, die längst in den Cineasten-Himmel aufgestiegen sind. Bei der Premiere des Dokumentarfilms "Hitchcock / Truffaut" zum Beispiel wurde selbst für Cannes-Verhältnisse besonders verbissen um jeden Kinosessel gekämpft.

Der amerikanische Filmkritiker und Regisseur Kent Jones huldigt in diesem Liebhaberprojekt einem der wichtigsten Filmbücher. Für "Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?" hatte der junge Kinozauberlehrling François Truffaut einst den Großmeister Sir Alfred Hitchcock interviewt - insgesamt ganze 50 Stunden. Das Ergebnis: ein aufregender, intimer Blick in die Obsessionsfabrik des Überregisseurs.

Ein Grundlagenwerk also, das viele Zuschauer im Saal, die sich ja beruflich mit Film beschäftigen, zerfleddert und in Griffweite daheim liegen haben dürften. Trotzdem kamen ein paar Hundert Menschen, um nochmal gierig den alten Anekdoten zu lauschen. Dafür hat Kent Jones Filmemacher zusammengetrommelt, die selbst quasi schon Legenden sind: Martin Scorsese, Paul Schrader, Peter Bogdanovich, David Fincher und Wes Anderson erzählen, wie dankbar sie Truffaut für sein Buch sind und wie sehr sie Hitchcock bewundern. Das bringt wenig Neues, dafür viel hübsche Nostalgie.

Letztlich ein weiterer Lückenbüßer, denn was die Zuschauer in Cannes eigentlich sehen wollen, und was ihnen dieses Jahr bislang verwehrt blieb: wie ein künftiger Klassiker der Filmgeschichte das erste Mal über die Leinwand flimmert - oder gleich mehrere.

So wie zum Beispiel im Superjahrgang 2013, als ein opulentes Meisterstück wie "La Grande Bellezza" von Paolo Sorrentino zwischen zwei noch bezaubernderen Filmen zerrieben wurde: "Inside Llewyn Davis" und "Blau ist eine warme Farbe".

Nun könnte aber 2015 endlich zum großen Cannes-Jahr des Italieners Paolo Sorrentino werden. Nachdem auch der Chinese Jia Zhangke im Wettbewerb daran scheiterte, die Pulsfrequenz der Zuschauer mit seinem zärtlichen, aber zum Schluss zähen Melodram "Mountains May Depart" über eine Dreiecksbeziehung zwischen einem Mädchen und zwei Jungs, die sich über zwei Jahrzehnte erstreckt, zu erhöhen, gab Sorrentino allen Nostalgie-Süchtigen den Stoff, den sie brauchen.

In "Youth" tummeln sich alte Schauspiellegenden, die schon zu Audrey Hepburn-Zeiten aktiv waren, in einer Autorenfilmtravestie, die Luis Buñuel gut gefallen hätte. Damit man den Film sofort als Werk eines europäischen Autorenfilmers erkennt, gibt es natürlich sehr viele nackte Menschen - was der Handlungsort aber auch leicht macht: ein luxuriöses Wellnessresort in den Schweizer Alpen. Dort liegen Michael Caine und Harvey Keitel gemeinsam im Pool und leiden am Leben und der Kunst sowie daran, dass sie beim Urinieren nur noch ein paar Tropfen herausbringen.

Caine spielt einen gealterten Star-Komponisten und Dirigenten, der nichts mehr komponieren und nichts mehr dirigieren will - bis er in einer wunderbaren Szene doch rückfällig wird und eine Almwiese dirigiert: die Kühe mit ihren Glocken, die Vögel in den Bäumen, den Wind im Gras.

Keitel spielt einen gealterten Filmregisseur, der sich im Spa eingeschlossen hat, um am Drehbuch für sein filmisches Testament zu schreiben. Das geht grandios schief, nachdem seine alte Muse, gespielt von Jane Fonda, ihm einen Korb gibt. Ein paar schräge Nebenfiguren und ihre Geschichten kommen auch noch hinzu, aber wenn hier eines explizit nicht wichtig ist, dann genau dies: die Geschichte. Sorrentino ist ein begeisterter Stilist, die Opulenz der Bilder und Töne steht immer an erster Stelle, sprunghaft, ironisch, pathetisch.

Ein herrlicher Film also, wenn man zu sanftem Realitätseskapismus und Melancholie neigt. Ein wirklicher Kinofilm auch, der das genuine Kinoerlebnis lustvoll zelebriert - und es gleichzeitig parodiert. Im Fernsehen liege die Zukunft, muss sich der von Keitel gespielte Altregisseur ständig anhören.

Sollten die Kinogötter Sorrentino im Rennen um die Goldene Palme, die am Sonntag verliehen wird, wieder nicht gewogen sein, hat er jedenfalls schon vorgesorgt: Als Nächstes dreht er mit Jude Law, der den Papst für ihn spielen wird - eine Fernsehserie für HBO und Sky.

© SZ vom 21.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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