11. Filmfestival goEast:Mord als Alltäglichkeit

Lesezeit: 4 min

Da wird in einer russischen Provinzstadt im Minutentakt gemordet - doch ein flotter Gitarrensound konterkariert jede Ernsthaftigkeit: Das Festival des osteuropäischen Films in Wiesbaden überschreitet Grenzen.

Von Paul Katzenberger

Mitten im Westen dem Osten begegnen - so beschrieb das diesjährige goEast-Filmfestival in Wiesbaden seinen Auftrag, den es nun knapp eine Woche lang zum elften Mal erfüllte. Dabei ist kaum ein größerer Gegensatz vorstellbar, als der zwischen der heilen Welt dieser offensichtlich wohlhabenden Kurstadt und der rauen Provinz Russlands oder den Hinterhöfen Bukarests, wo einzelne der insgesamt 127 gezeigten Filme aus 30 Ländern spielten.

Mörderisch, aber auch atemberaubend schön: Die Gegend um Krasnojarsk in Sibirien. Monamour. (Foto: IDSiDE)

Doch die neue Festivalleiterin Gaby Babic ist gegen das ausschließliche Denken in räumlichen Grenzen - für sie kann der Osten im Zeitalter der Globalisierung auch schon in Wiesbaden beginnen. Beispielsweise in der polnischen Eckkneipe oder beim russischen Lebensmittelhändler.

Ein Thema wie Migration sei keine Problematik des Ostens und keine des Westens, sondern längst eine globale, sagt sie. Um diesen Ansatz zu unterstreichen, präsentierte Babic bei ihrem Debüt in der neuen Festivalsektion "Beyond Belonging" Filme wie den US-amerikanischen Look Stranger oder den belgischen Illegal, jenseits aller Zuordnungen, die einen Fokus auf transkulturelle Phänomene legen. Ein Grundgedanke, der in diesem Jahr allerdings auch in den zwei Wiesbadener Wettbewerben mit zehn Spiel- und sechs Dokumentarfilmen klar erkennbar war.

In der ungarischen Komödie Kinder des grünen Drachens - A Zöld Sárkány Gyermekei lehrt etwa der vereinsamte Chinese Wu den gleichfalls vereinsamten ungarischen Immobilienmakler Máté, wie er an seiner Verlierermentalität arbeiten kann.

Diese sei für die Menschen in Osteuropa typisch sagte Regisseur Bence Miklauzic bei der Deutschlandpremiere seines Filmes in Wiesbaden. "In ganz Osteuropa herrscht eine ganz andere Lebenseinstellung vor als im Westen. Die Menschen betrachten sich als Opfer." Diese Haltung zu hinterfragen, gelang den Kindern des Grünen Drachens mit Humor und ohne besserwisserische Attitüde.

Osteuropäische Verlierermentalität

Auch in dem bulgarischen Wettbewerbsfilm Spuren im Sand - Stupki v Pyasuka erhält ein Osteuropäer Rat von einem Ausländer - in diesem Fall der Bulgare Slavi von einem weisen Indianer in Utah, der ihm begreiflich macht, wie er seine große Liebe zurückgewinnen kann.

Bei Spuren im Sand geht es also ebenfalls um die großen Themen des Lebens, die dem Publikum mit Humor und mittels ausländischem Wissen näher gebracht werden sollen. Doch leider vertändelt sich der Film zu sehr im Skurrilen und verliert so seine Glaubwürdigkeit.

Von Grenzüberschreitungen handelte in Wiesbaden auch der russische Wettbewerbsbeitrag Der Heizer - Kochegar von Aleksej Balabanow, indem er sich nebenbei mit dem Verhältnis der Russen zum indigenen Volk der Jakuten befasst.

Kenner des osteuropäischen Kinos dürften auf diesen Film besonders gespannt gewesen sein, denn Balabanow, der wegen seiner Gewaltdarstellungen und Tabuverletzungen gerne mit Quentin Tarrantino verglichen wird, polarisiert mit seinen Werken so gut wie immer. Glühende Begeisterung und abgrundtiefe Ablehnung halten sich beim Publikum dabei stets die Waage - und auch der Heizer wird diese gegensätzlichen Positionen heraufbeschwören.

Katka von Helena Trestikova: Die Heroinabhängige kommt aus der Spirale aus Abhängigkeit und erniedrigendem Dasein einfach nicht heraus. (Foto: Negativ)

Nachdem sich Balabanow in seinen jüngsten beiden Filmen Fracht 200 - Grus 200 und Morphium - Morfej erst am sozialistischen und dann am revolutionären und postzaristischen Russland abgearbeitet hatte, attackiert er mit dem Heizer nun die postkommunistische Gesellschaft mit ihrer Willkürherrschaft durch die Mafia.

Balabanow wäre nicht der Provokateur, der er ist, wenn er das ernste - und blutdurchtränkte - Thema in seiner Krimikomödie nicht total verballhornen würde: Da wird in einer russischen Provinzstadt im Minutentakt gemordet und gemetzelt - doch ein flotter Gitarrensound konterkariert jede Ernsthaftigkeit. Wer auf Balabanow steht, kommt im Heizer erneut auf seine Kosten - die Handschrift des russischen Enfant terribles ist deutlich erkennbar. Doch auch die Kritiker werden wieder genug Stoff haben, an den ethischen Grundsätzen des notorischen Unruhestifters zu zweifeln.

Die Wiesbadener Jury unter dem serbischen Regisseur Zelimir Zilnik schlug sich allerdings auf die Seite der Balabanow-Fans und vergab den Hauptpreis des Festivals - die mit 10.000 Euro dotierte "Goldene Lilie" - für den Heizer.

Eine Demarkationslinie überquerte in Wiesbaden auch Balabanows russischer Landsmann Slava Ross, der mit Sibirien. Monamour einen beachtlichen Erstlingsfilm präsentierte. Das Drama um Menschlichkeit und Erbarmen spielt zwar ausschließlich in der Abgeschiedenheit Sibiriens, doch im Finale des Films transzendieren die Figuren aus der wirklichen Welt in die Spiritualität - Ross versucht sich also an der ultmativen Grenzüberschreitung.

"Mitgefühl zählt mehr als Gerechtigkeit"

Zuvor beschreibt er ein zutiefst ambivalentes Sibirien: Die Natur ist feindlich und voller Lebensgefahren, doch auch von atemberaubender Schönheit. Die Wolfshunde sind Mörder und Kameraden zugleich. Die Charaktere sind von den Härten des Lebens deformiert, doch dann offenbaren sie plötzlich unerwartet freundliche Wesenszüge. Die stärkste Metamorphose dieser Art durchläuft der mehrfach im Kampfeinsatz verwundete Hauptmann Alexander, der erst zum Machtmissbrauch neigt, doch der sich nach einer einzigen menschlichen Geste seines Adjutanten vollständig läutert. "Die Menschen müssen sich nur ein bisschen für die Liebe öffnen - ein erster Schritt reicht. Mitgefühl zählt mehr als Gerechtigkeit", beschrieb Ross in Wiesbaden sein Anliegen.

Eine kleine Öffnung für das Gute, und schon gibt es Hoffnung - dieses Versprechen suchte der Zuschauer in dem rumänischen Wettbewerbsbeitrag Aurora von Cristi Puiu vergebends. Vielmehr veranschaulicht der Rumäne die totale Perspektivlosigkeit seines arbeitslosen und frisch geschiedenen Protagonisten Viorel (gespielt vom Regisseur selbst), der seine persönlichen Verletzungen durch drei kühl geplante Morde aufarbeitet, die in ihrer Vorbereitung und Ausführung allerdings furchtbar profan bleiben.

Mord als Alltäglichkeit - es ist der Gleichmut, der in diesem Film schaudern lässt. Trotzdem hat Puiu, der den gefeierten rumänischen New Wave mitbegründet hat, in Aurora für das breite Publikum wohl überdreht. So viel Dogma - drei Stunden lang kein künstliches Licht, keine Musik, kaum epische Elemente und nur wenige Dialoge - verkraften nur die glühendsten Fans. Puiu, der in Wiesbaden durch Produzentin und Ehefrau Anca vertreten wurde, weiß das selbst: "Wir arbeiten uns Stück für Stück nach vorne, ein Kopie für ein Programmkino hier, ein Festivalbeitrag dort", sagte Anca Puiu.

Deprimierende Ausweglosigkeit beschrieb in Wiesbaden auch Helena Trestikova mit ihrem Beitrag Katka für den Dokumentarfilmwettbewerb. Die Pragerin, die 2008 mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet wurde, hat sich darauf spezialisiert, extrem lange Zeiträume abzubilden. In Katka begleitet sie eine Heroinabhängige von ihrem 19. bis zu ihrem 33. Lebensjahr. Der Zuschauer erlebt dabei einen gnadenlosen Kampf zwischen Hoffen und Selbstaufgabe, der schließlich nicht zum herbeigewünschten Happy End führt: Es sind eben doch nicht alle Grenzen überwindbar.

© sueddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: