Filmfestival: Bollywood and beyond:Kein TÜV in Bollywood

Wer bei Bollywood immer noch an grellbunte Tanzfilme denkt, die fünf Stunden dauern, und in denen der Ganove grimmig dreinblickt, der möge betreten schweigen - und kommendes Jahr nach Stuttgart fahren.

Alex Rühle

Kleine Umfrage bei Google: Was bedeutet Originalität?" Ein Paar frische Augen" schreibt Tomas Higginson. "Unentdeckter Plagiarismus" sagt W.R. Inge. "Ein Ding der Unmöglichkeit" behauptet Erzra Pound.

Thanks Maa, Kinofilm, Indien

"Während Sie diesen Film gesehen haben, wurden hier elf Kinder ausgesetzt": Der indische Film ist sozialkritisch, nicht kitschig. Bestes Beispiel ist "Thanks Maa" von Irfan Khamal, der vielleicht schönste Spielfilm des Festivals "Bollywood and beyond".

Kleine Umfrage unter Indern, auf den Straßen von Neu Delhi und Mumbai: Was bedeutet Jugaad? "Dass man aus Nichts etwas Neues macht." "Jugaad sollten wir Inder patentieren lassen, schließlich funktioniert das ganze Land nur dank Jugaad." "Jugaad heißt, dass man sich was abschaut und es selber anders zusammensetzt." Und ein Straßenkind sagt: "Jugaads sind alt und haben einen kaputten Motor."

Schnitt auf eines dieser wackeligen Gefährte, die man auf Indiens Straßen bestaunen kann und die aussehen, als seien sie schon durch viele Formen der Wiedergeburt gegangen: Ein Traktor mit Toyotaspoiler und VW-Motor, der Tank aus Plastik, mit Kokosfaserseilen drangebunden, die Benzinleitungen aus Jahrtausende alten Gummischläuchen, statt eines Rückspiegels sitzt ein arbeitsloser Bauer entgegen der Fahrtrichtung auf dem Kotflügel und erzählt dem Fahrer, was hinter ihm so passiert - willkommen im indischen Straßenverkehr, willkommen in der großartigen, selbstironischen Kinodokumentation "The Great Indian Jugaad", einem Loblied auf die indischen Improvisationskünste.

Willkommen auch in Stuttgart, wo mit "Bollywood and beyond" seit fünf Jahren das größte indische Filmfestival außerhalb Indiens beheimatet ist. Dass mit Stuttgart und Indien diametrale Welten aufeinanderprallen, wird spätestens klar, wenn im Dunkel des Kinosaales während der "Jugaad"-Vorführung ein älterer Mann bei der Ansicht eines dieser abenteuerlich selbst zusammenmontierten Autos, die den Subkontinent am Laufen halten, stöhnt: "Heidenei, die henned koi TÜV in Bollywood."

Wobei einen der Begriff Bollywood in die Irre führt. Die meisten denken bei indischem Kino ja immer noch, ach die machen doch diese grellbunt pompösen Tanzfilme, die fünf Stunden dauern, und in denen der Ganove grimmig dreinblickt wie ein outrierter Komparse in den Zeiten des expressionistischen Stummfilms. Wer so denkt, möge jetzt betreten schweigen und sich im kommenden Jahr nach Stuttgart verfügen, auf dass er fünf Tage lang eines Besseren belehrt werde. Was für ein sattes Programm! Was für großartige Filme!

Salman Rushdie feiert in einer selbstreflexiven Passage seiner "Satanischen Verse" die indische Kultur als metamorphotische Anverwandlung und Dauerfusion verschiedenster Einflüsse: "Dieser einengende Mythos der Authentizität, diese folkloristische Zwangsjacke! Man muss sie ersetzen durch die Technik eines historisch verbürgten Eklektizismus - basiert nicht unsere gesamte nationale Kultur auf dem Prinzip, sich die Gewänder auszuleihen, die am besten passen, indoiranische, mogulische, britische, die Rosinen aus dem Kuchen?"

Buntschillernd, schrill wuchernd

Bollywood hat was von einer fleischfressenden Pflanze, buntschillernd, schrill wuchernd, verleibt sich das indische Kino mittlerweile alle Strömungen ein, verdaut sie in seinen riesigen Studios und spuckt dann seine eigene Version davon aus: Mit anderen Worten: Ganz Bollywood ist "Jugaad".

Es gab auf dem diesjährigen Stuttgarter Festival mit "Lamhaa" einen Agententhriller aus dem Bürgerkriegsgebiet Kaschmir, der schneller geschnitten schien als "Bourne Identity" und so schonungslos über die Verstrickung islamischer Würdenträger in die dreckigen Kriegsgeschäfte spricht, dass der Film am Tag vor der Festivaleröffnung in mehreren arabischen Ländern verboten wurde. "The Stitches Speak", ein zwölfminütiger Trickfilm, der ebenfalls den Kaschmirkonflikt verhandelt, ist wiederum liebevoll angewandter "Jugaad", indem darin ein uraltes Handwerk mit filmischem Trickhandwerk verquickt wird: Die beiden Familien, die hier ihr eigenes Schicksal erzählen, sind allesamt Kunststicker und beschreiben in bewegten, zugleich kunstvoll und kindlich wirkenden Teppichstickereien ihren Auszug aus Pakistan und den Versuch, sich in Nordindien ein neues Leben aufzubauen.

Es gab indische Filme aus Frankreich, London, den USA, Neuseeland und Kanada, einen tagebuchartig kargen Kurzfilm über die psychischen Probleme des Exils, eine düstere Studie über Jugendgangkriege in London und besten, süffigen Mainstream über ein indisches Restaurant in New York, lauter Filme, die zum einen zeigen, dass Bollywood längst alle Erzählformen virtuos beherrscht, und die gleichzeitig en passant deutlich machen, dass die meisten indischen Filmemacher heute auch physisch zwischen den Kontinenten und Kulturen beheimatet sind.

Immer wieder leuchtete im Hintergrund der Filme die Silhouette von Bombay auf, dieser Stadt, die Heimat der indischen Filmindustrie und Hybridkultur ist: "Thanks Maa" von Irfan Khamal, der vielleicht schönste Spielfilm des Festivals, spielt vor der Kulisse dieser urbanen Umwälzpumpe, einer so schönen wie grausamen Stadt, die neben den größten Slums der Welt mehr Millionäre beherbergt als Manhattan. Im Abspann heißt es: "Während Sie diesen Film gesehen haben, wurden hier 11 Kinder ausgesetzt."

"Thanks Maa" erzählt, wie ein Straßenjunge namens Municipality, der selbst einst ausgesetzt wurde, solch ein Baby findet und mit Hilfe dreier Freunde versucht, dessen Mutter ausfindig zu machen. Die Art, wie diese vier Kinder das Baby mehrere Tage lang durch den Großstadtdschungel retten, wie sie ihm zu trinken einflößen mit Hilfe einer angepieksten Tüte und geklauter Kuhmilch - reinster "Jugaad". Man kann es schlicht nicht glauben, dass die Hauptfigur, der etwa zehnjährige Municipality, tatsächlich von einem Straßenjungen verkörpert wird, derart virtuos spielt er diesen trotzig reinen Jungen. Der englische "Slumdog Millionaire" verblasst vor dem bissigen Humor dieses Films und der Intelligenz des Drehbuchs, das auf seine Art selbst wieder ein Hohelied auf die Kunst des Jugaad anstimmt, etwa wenn der völlig wurzellose Municipality sich immer wieder neu erfindet, indem er sich fortwährend andere Phantasienamen zulegt.

Viele Szenen von "Thanks Maa" wurden in Dharavi gedreht, dem dichtest besiedelten Ort der Welt, einem Slum, der früher weit vor den Toren der Stadt lag, aber heute mitten im Moloch Mumbai leckeren Baugrund abgäbe, weshalb internationale Konsortien längst ausloten, wie man am besten die 800 000 Menschen, die hier leben, loswerden könnte. "Dharavi - Slum for Sale", eine großartige Dokumentation von Lutz Konermann, zeigt die Ambivalenz ehrgeiziger Stadtentwicklungsprojekte: Soll man, wie es dem in Amerika ausgebildeten Stararchitekten Mukesh Mehta vorschwebt, das vor sich hinwuchernde, stinkende Dauerprovisorium Dharavi, ein gebautes Riesen-Jugaad, dem Erdboden gleichmachen, um hier chic glitzernde Türme hochzuziehen? Soll man alles so lassen, schließlich funktioniert der Slum mit all seinen winzigen Handwerksbetrieben auf seine Art hervorragend, jedes Jahr werden hier Waren für fast eine Milliarde Dollar produziert, jeden Tag werden Lebensgeschichten fortgeschrieben, die für Europäer verstörend wirken, aber wie sagt doch ein alter Mann: "This is a beautiful place."

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