Filmfest Retrospektive:Terence Davies

Es begann in Klaustrophobie und endet im Licht - konzentrierte, autobiografische Filme

H.G. PFLAUM

Stilisten sind selten geworden im Kino. Stil gilt als verdächtig, als leblos, akademisch und überholt. Terence Davies ist ein Stilist. Und er ist ein wunderbarer Regisseur. Der Stil ist es, mit dem Davies seine Figuren ernst nimmt und ihnen ihre Würde verleiht. Wenn der kranke und greise Tucker am Ende von "Death and Transfiguration" stöhnend und röchelnd seine letzten Atemzüge erlebt, wenn auch die allerletzten Erinnerungen an ihm vorübergezogen sind und er mehr krepiert als stirbt, so ist es das Licht in der Einstellung, ihre Kadrierung, das aufmerksame, fast andachtsvolle Innehalten der Kamera, der diesem Augenblick seine menschliche Dimension sichert.

Filmfest Retrospektive: "House of Mirth" - Filmszene

"House of Mirth" - Filmszene

(Foto: Verleih)

Terence Davies hat seine unverwechselbare Handschrift - und darin gleicht er Fassbinder - durch die aufgezwungene Beschränkung der Mittel entwickelt. Über den Blick für das Unsichtbare muss er schon vorher verfügt haben. Im ersten Bild seiner ersten Arbeit, dem 1976 mit Mitteln des BFI produzierten Kurzfilm "Children" (die erste von drei kürzeren Arbeiten, die nun als "Trilogie" zu sehen sind) schaut die Kamera auf die düstere Backsteinfassade einer Schule. Noch bevor die Lehrer zuschlagen, die Kids auf Kommando beten müssen oder sich auch noch für die Hiebe artig bedanken, spüren wir das System der Einschüchterung, das in diesem Gebäude herrscht - durch die langen, statischen Einstellungen, den Verzicht auf tiefenscharfe Totalen, die ein Gefühl der Freiheit evozieren könnten, und das an Murnau und Dreyer erinnernde Licht.

Von Anfang an hat Davies ein sehr ungewöhnliches Verhältnis zum Ton. Weit überlappende Dialoge, Texte, innere Monologe und auch die Musik lösen sich immer wieder von den Bildern, scheinen ein Eigenleben zu führen, und doch entsteht durch die Inkongruenz von Bild und Ton eine charakteristische Spannung. Sie stellt Verbindungen her, die sich verbal schwerlich formulieren ließen. Wir hören, wie Tucker versucht, sich die Genitalien tätowieren zu lassen - dazu bewegt sich die Kamera geradezu andächtig in einer Kirche, in der der Mann inbrünstig betet: Da bedarf es keines Kommentars mehr, um von den Konflikten und Depressionen des katholisch erzogenen Homosexuellen zu berichten.

Fast obsessiv setzt sich Terence Davies immer wieder mit seiner eigenen schwierigen, aber keineswegs unglücklichen Kindheit in Liverpool auseinander. Der Trilogie folgten "A Long Day Closes" und "Distant Voices, Still Lives". Einstellungen von einem Jungen, der aus einem Fenster nach draußen blickt, werden zum Leitmotiv: ein Bild der Einsamkeit, der Sehnsucht, des Eingeschlossenseins, aber auch der Geborgenheit. Die Filme von Terence Davies erzählen immer auch von der Ambivalenz von Emotionen.

Die früheren, in England entstandenen Arbeiten sind geprägt von magischen Momenten der Erinnerung. Längst vergessene Musik, Lieder vor allem, tauchen aus der Vergangenheit auf. "Daddy used to sing that", sagt Tuckers Mutter zu einem irischen Folksong, und ihre Augen werden feucht. Die Vergangenheit war eine Zeit der Stille, in die die Lieder einfielen wie Licht. Ich kenne keinen anderen Gegenwartsregisseur, der intensiver mit der Stille umzugehen wüsste - selbst bei seinem jüngsten, in den USA vergleichsweise aufwändig gedrehten Film "House of Mirth (Haus Bellomont)" bleiben die Momente der Stille klarer im Gedächtnis als alle anderen.

Jeder Mensch sollte sein Lied haben, hat Fassbinder einmal gefordert. Davies löst dies immer wieder ein. Wenn der Junge in "Neon Bible" am Ende den Ort verlässt, an dem er ein verzweifeltes Verbrechen begangen hat und Stephen Fosters wunderbares Lied "Hard Times" erklingt,überwindet allein diese Sequenz alle Manierismen, die man diesem Film vielleicht vorwerfen mag. In "The Long Day Closes" führt der reiche und scheinbar inhomogene Soundtrack von Boccherini über Mahler bis zu Nat King Cole und Doris Day - und jeder einzelne Ton hat seine emotionale Stringenz, manchmal auch nur als Kontrapunkt.

Davies' Figuren sind alle früh gealtert, auch an ihren sozialen Problemen, die der Regisseur stets nur andeutet, weil die psychischen Nöte ungleich schmerzhafter zuschlagen. Stets erscheinen Kinder und Frauen verwundbarer, sensibler, sind also prädestinierte Opfer. Die Männer bestehen darauf, dass das "home" auch ein "castle" sei, weil sie dort ungestörter über ihre Frauen herrschen können. Kirchen, Kneipen und immer wieder Kinos werden zu Fluchtorten, an denen das Verstummen ein Ende hat. In einer hinreißenden Fahrt scheinen gegen Ende von "The Long Day Closes" die Räume und die Stuhlreihen des Kinos, der Schule und der Kirche zu verschmelzen - Orte der Illusionen, vielleicht auch der Glücksmomente und vor allem der vergeblichen Hoffnungen.

Auch die Räume offenbaren in den Filmen von Terence Davies ihre Widersprüche, weil sie immer wieder gleichzeitig schützen und beengen. "House of Mirth" kommt ohne die unterschwellige Klaustrophobie aus. Die Kamera scheint zu schwelgen in den lichtdurchfluteten Räumen und noblen Häusern der New Yorker High Society gleich nach der Jahrhundertwende - und doch vermittelt ein leerer Salon mit seinen abgedeckten Möbeln plötzlich die Atmosphäre einer Leichenhalle.

Viele Motive dieser Verfilmung eines Romans von Edith Wharton erinnern an Scorseses Wharton-Film "Zeit der Unschuld". Davies' Inszenierung der Tragödie einer jungen Frau mag weniger virtuos sein, doch sie wirkt ebenso plausibel und hat vielleicht einen noch kräftigeren emotionalen Zugriff, weil der Regisseur jenes Missverständnis seiner Figuren, dass das Leben vor allem ein gesellschaftliches sein müsste und dahinter der Abgrund lauert, ungleich deutlicher macht. Dieser Zusammenhang scheint auch die Personen immer wieder zum Reden zu zwingen. Mehr Dialog war nie in einem Film von Terence Davies. Und doch teilen sie meist etwas anderes mit als das Gesagte: Ein Satz wie "Darf ich Sie in die Kirche begleiten?" wird zum versteckten Heiratsantrag eines frommen, schüchternen und sehr konventionelle Mannes.

Auf den ersten Blick hat diese Arbeit wenig zu tun mit den früheren Werken des Regisseurs. Doch dahinter steht das zentrale Thema, das Davies in "A Long Day Closes" verschlüsselt definiert, wenn ein Lehrer seinen Schülern die verschiedenen Arten von Erosion erläutert und die entscheidende übergeht: die Erosion von Geist und Körper durch das Leben. Sie ist das zentrale Thema von Terence Davies.

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