Filmfest München:Netzwerke der Sehnsucht

Im Reich der Möglichkeiten - Christopher Münchs Kino der vergessenen Momente

HANS SCHIFFERLE

Der Trip scheint in eine andere Welt zu führen, in der für vier Tage der Lauf der Zeit außer Kraft gesetzt ist. Von einem Kurzurlaub, den der junge John Lennon und der brillante Beatles-Manager Brian Epstein im Frühling 1963 im wunderschönen Barcelona Antoni Gaudís verbrachten, handelt Chris Münchs erster Film "The Hours and Times" (1991). Der 60-minütige Film, bei dem auf jegliche Schnörkel verzichtet wurde, ist eine bezwingende Fantasie über das Verhältnis zwischen dem heterosexuellen, provokativen Arbeiterjungen Lennon und dem schwulen, kulturbeflissenen Dandy Epstein, gefilmt in einem eleganten Schwarzweiß, das einerseits dokumentarisch wirkt, im nächsten Moment eine fast traumhafte Atmosphäre verbreitet. Ein Innehalten zwischen Erholung und Erwartung, eine Twilight Zone zwischen gestern und morgen.

Filmfest München: Jacqueline Bisset

Jacqueline Bisset

(Foto: Verleih)

Die Vernetzung von Historie, Pop-Mythologie und Privatem interessierten den 38-jährigen Kalifornier Münch besonders. Epstein, der erfahrene, aber verletzliche Svengali, erkennt das Potenzial in Lennon, ein ernstes Spiel beginnt zwischen dem begehrenden Macher Epstein und dem lustvoll unsicheren Star, eindrucksvoll dargestellt von David Angus und Ian Hart. Ein Spiel, dessen Einsatz Sex, Liebe und Freundschaft sind. Es geht aber auch um die Grenzen der Zuneigung und die Grenzüberschreitungen des Rebellentums. Diese Frage stellt der Film unterschwellig: Wer der größere Rebell sei. Die Homosexualität im Kino des Chris Münch hat immer auch zu tun mit einer gewissen Sensibilität, mit der Eröffnung neuer, schillernder Möglichkeiten.

Ein Hauch von Melancholie durchzieht jeden Münch-Film, auch seinen Erstling, der manchmal wie die abstrakte Skizze zu einem großen Melo wirkt. Die Vergangenheit, der Frühling 1963, bleibt bestehen, aber sie wird sich nicht wiederholen. Epstein und Lennon verabreden zwar ein Wiedersehen in Barcelona in zehn Jahren. Aber dieses Date wird nicht zustande kommen. Epstein ist bereits 1967 an einer Überdosis Schlaftabletten gestorben. Schlaf, Träume, Tod, vielleicht ist das Leben dazwischen nur ein Haufen vertaner Chancen.

Ein magischer Ort, ein Anachronismus und die Liebe: Das sind auch die Themen von Münchs zweitem Film, der nach einem Octavio Paz-Gedicht den Titel "Color of a Brisk and Leaping Day" bekommen hat. Der Film von 1996 ist ein geradezu bizarres, akademisches Americana, inspiriert von den Fotografien Ansel Adams. Die Geschichte spielt kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. John, ein junger charismatischer und wohlhabender Amerikaner chinesischer Herkunft, ist ein verrückter Eisenbahn-Fan. Vielleicht, weil sein Großvater, ein chinesischer Einwanderer, einst am Eisenbahnbau beteiligt war. Etwas Geheimnisvolles, Erotisches haben die Loks, Gleise, die Stationen für John. Die Schienenstränge scheinen für ihn nicht nur Orte zu verbinden, sondern auch Zeiten und Emotionen - ein Netzwerk der Sehnsucht.

Eines Tages beteiligt er sich am Kauf der malerisch gelegenen Yosemite Park Railway, der die Einstellung droht. Der Kampf um die Wiederbelebung der historischen Strecke wird zu seinem Lebensinhalt. Eine Aufgabe gegen jede Chance: längst haben Autos und Busse ihren Siegeszug angetreten im prosperierenden Amerika der Nachkriegszeit. John erscheint als beautiful loser, wie aus einem film noir, der sich gegen einen Zeitlauf stemmt, der immer mit Verlust verbunden ist. Auch seltsame Liebeserfahrungen fließen vorbei wie die Landschaft am Zugfenster: die Beziehung zu seiner Schwester, die Liebe zu einer Indianerin, die Freundschaft mit einem schweigsamen Eisenbahner, den R.E.M.-Musiker Michael Stipe spielt.

"Color of a Brisk and Leaping Day" ist eine elegische Studie in Schönheit und Traurigkeit, die Gefahr läuft, ein wenig zu arty zu werden. Und er ist eine Hommage an die Zeit der Pioniere. Im Film gibt es eine Sehnsucht nach alten Eisenbahnen und alten Filmen, einiges erinnert an Buster Keatons "The General". Münch zeigt Film als ein Medium, das dem Tod bei der Arbeit zuschaut und selbst dem Wandel unterworfen ist.

Vom Sterben handelt Münchs neuer Film "Sleepy Time Gal", sein erster Farbfilm, der dem Mosaik eines Melodrams gleicht. Eine Familiengeschichte, die durchs ganze Land führt und mehr als 40 Jahre umspannt, wird rekonstruiert, eine Saga entsteht als Patchwork. Es gibt grandiose Bilder von Brücken in diesem Film, Autofahrten, Ballonflüge, Panorama-Blicke. Und es gibt Zeitverknüpfungen: alte, geheimnisvolle Fotos, home movies und Songs im Radio, wie den alten Hit vom "Sleepy Time Gal". Es geht um die Überwindung von Distanzen - und sei es nur im Nebeneinander.

Die 52-jährige Frances, die an Krebs erkrankt ist, lässt ihr abenteuerliches Leben noch einmal Revue passieren. Jacqueline Bisset gibt ein bemerkenswertes Porträt einer Amerikanerin zwischen Stolz und Unsicherheit, zwischen Rebellion und Demut. Frances versucht sich endlich zu arrangieren mit ihrem 20-jährigen Sohn Morgan, einem homosexuellen Fotografen. Und sie sehnt sich nach ihrer unehelich geborenen Tochter Rebecca, die sie einst, gleich nach der Geburt, zur Adoption freigegeben hat. In einer parallelen Handlung sucht diese Rebecca wiederum nach ihren leiblichen Eltern. Es kommt zu merkwürdigen Annäherungen im Leben von Mutter und Tochter, von denen beide nur Ahnungen haben können - etwa wenn Rebecca mit dem selben Mann ins Bett geht, mit dem ihre Mutter vor Jahrzehnten eine Affäre hatte.

"Sleepy Time Gal" ist poetisches Kino der Möglichkeiten und erinnert manchmal an die Filme von Julio Medem, Wong Kar-Wai oder auch Tom Tykwer, in denen es auch um das Spiel von Schicksal und Zufall geht. Doch Münchs Filme bleiben einzigartig, weil sie sich mit ihren subtilen Sensationen jedem Zeitgeist zu widersetzen scheinen. Die Sterbeszene in "Sleepy Time Gal" ist atemberaubend und schmerzlich zugleich: Sie ist gefilmt als Verlangsamung einer rasanten Fahrt durch ein ländliches Amerika.

Es ist ein Abenteuer, dem Werk von Chris Münch zu begegnen - als wolle uns High-Tech-Amerika noch mal überraschen. Da tauchen plötzlich diese überaus künstlerischen Filme auf, die das Neue im Alten entdecken, das Handgemachte im Kino wiederbeleben. Sie scheinen aus einer anderen Welt zu kommen, die Amerika einmal war. Einmal fährt Jacqueline Bisset mit ihrem alten Lover Seymour Cassel über eine Landstraße in Pennsylvania. In einer Kurve begegnet ihnen eine Amish-Kutsche. Ein moment out of time, der einiges ahnen lässt von Amerika, seiner Geschichte und seinen Geschichten.

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