"Marie Curie" im Kino:Physiknobelpreisträger-Softporno ohne Sex

Szene aus dem Film "Marie Curie"

So sehen historische Fakten im Film aus: Marie Curie (Karoline Gruszka) hatte ein Verhältnis mit dem verheirateten Physiker Paul Langevin (Arieh Worthalter), dass die französische Presse 1911 beschäftigte.

(Foto: NFP Marketing & Distribution)

Das Biopic "Marie Curie" vertut die Chance, mit den kursierenden Missverständnissen über das Leben der Nobelpreisträgerin aufzuräumen. Stattdessen geriet der Film zum Rosamunde-Pilcher-Schinken.

Filmkritik von Juliane Liebert

Dies ist der Film, auf den ganze Generationen von Physik- und Chemielehrer/innen gewartet haben: eine romantische Adaption von Marie Curies Leben. Attraktive, junge, leidenschaftliche Physiker, verbotene Romanzen, Duelle auf Leben und Tod, Feminismus, und, natürlich, die Wissenschaft.

Man will dem Vorhaben durchaus wohlgesonnen sein, aber bei der Analyse muss man doch wissenschaftlich vorgehen. Das hat Marie Curie verdient.

Untersuchungsobjekt Nummer 1, Szene 1: Marie (Karolina Gruszka) steht, hochschwanger, am Labortisch, als die Wehen einsetzen. Sie bleibt dabei weich gezeichnet; schwups, ist das Kind da, glückliche Familienszene, Cut.

Untersuchungsobjekt Nummer 2, Szene 2: Marie und Pierre Curie (Charles Berling) turteln wild herum, als ein nerviger Abgesandter des Nobelpreiskomitees sie abholen lassen will. Sie überlegen kurz, den Nobelpreis zurückzugeben, weil sie lieber Sex haben wollen, warmes Licht fällt auf Maries blonden Locken, während Pierre sie aufs Bett wirft. Cut.

Untersuchungsobjekt Nummer 3, Szene 5: Marie liegt in ihrem Bett, Pierre drückt sich von hinten sanft an sie und flüstert "Willst du?". Sie seufzt. Er: "Ja?" Man befürchtet das Schlimmste, doch nein, sie springen auf, überqueren den Hof, ihr Atem geht heftig, "Beeil dich" haucht sie, als er die Tür aufschließt. Sie betreten ihr Labor, wo sie das blau leuchtende Radium betrachten. Er (ergriffen): "Unser Radium. Es leuchtet von innen. So wie du." Cut. Wahre Komik ist, wie wahre Poesie, fast immer unfreiwillig.

Klingt amüsant, ist aber trotzdem ein Problem

Bisher haben wir: einen Physiknobelpreisträger-Softporno ohne Sex, dafür mit Familienszenen und motivierenden Zitaten. Wissenschaftlicher Zwischenbefund: Klingt amüsant, ist es auch. Ist aber trotzdem ein Problem.

Das Problem ist nicht, dass der Film kitschig ist. Das Problem ist, dass Marie und Pierre Curie einen vernünftigen Film verdient haben, denn Marie Curie ist heute eine ungemein starke politische Symbolfigur: als ehrgeizige Migrantin - und als Frau. Dass sie dabei auch verklärt wird, ist klar. Aber dieses Biopic schafft es nicht einmal, diesen Mythos gekonnt zu erzählen.

Es wird versucht, an einer Modewelle zu verdienen, nach dem Motto: Marie Curie, plus irgendwas mit starken Frauen, check. Und dann drehen sie einen Rosamunde-Pilcher-Schinken.

Die übliche Mogelpackung, nur dass dabei wieder einmal die Lebensleistung eines Menschen missbraucht wird. Nicht einmal wissentlich missbraucht - die Regisseurin Marie Noëlle, die in Interviews mehrfach angab, Marie Curie zu bewundern, glaubt wohl tatsächlich, eine starke Frau zu zeigen. Das macht es noch trauriger.

Albert Einstein bringt Marie Curie zum Lachen

Marie Curie

Der Radioaktivität auf der Spur: Karolina Gruszka als Marie Curie.

(Foto: NFP)

Aber zurück zur Handlung. Zum Physikersex kommt es erst mal nicht mehr, denn Pierre stirbt. Hierbei wird eine Szene verwendet (Untersuchungsobjekt 4), die in so vielen Filmen unterschiedlichster Gattungen vorkommt, dass es ganze Abhandlungen darüber geben müsste. Es ist die Kind-verabschiedet-sich-zum-letzten-Mal-von-seinem-Papa-Szene.

Sie geht so: Das bald versterbende Elternteil (in diesem Fall Pierre) verabschiedet sich von seinem Kind (in diesem Fall von der neunjährigen Irène Curie), weil es zur Arbeit muss. Dabei macht es eine vage Versprechung, die Zukunft betreffend - es wird dem Kind etwas mitbringen, mit ihm ins Kino gehen, es nie allein lassen, oder ähnlich. Dabei wird noch einmal gezeigt, wie sehr sich Kind und Elternteil lieben, dann aber - Elternteil geht über die nächste Straße, bumm, tot.

Filmväter, seid wachsam. Wenn ihr auf dem Weg zur Arbeit mehr als zwanzig Sekunden Verabschiedungszeit in einem Biopic bekommt, seid ihr schon so gut wie tot. Bleibt in diesem Fall einfach zu Hause und geht erst wieder raus, wenn sich die Lage beruhigt hat.

Nachdem Marie Curie vom Tod ihres Mannes erfahren hat und sie weiter an der Radioaktivität forscht, versandet der Film zu einem Schnulzendrama. Es gibt ein paar lustige Szenen über die damals vermutete Heilwirkung von radioaktiver Strahlung, wie "die radioaktiven Strümpfe für stets schöne Damenbeine", lichtdurchflutete Gärten, Mirabellenbäume, die Affäre mit einem anderen, verheirateten Physiker, ab und an einen Toten. Und Albert Einstein, der Marie Curie zum Lachen bringt.

Es ist schmerzlich zu sehen, welche Chancen vertan wurden, einmal etwas anderes über Marie Curie zu erzählen als ihr bekanntes "Wir sollten nichts im Leben fürchten, aber alles verstehen"-Zitat. Die Frau hat auch Sätze wie diesen gesagt: "Ich denke manchmal, es wäre besser, Kinder zu ertränken, als sie in unsere heutigen Schulen zu sperren." Ein Ausspruch, der sich eher selten in Schulbüchern findet, der aber für viele Schüler immer noch gegenwärtig ist.

Es ist schmerzlich zu sehen, welche Chancen in diesem Film vertan wurden

Ebenso vertan wurde die Chance, mit dem Narrativ von Marie Curies Leben als Tragödie aufzuräumen. Es wird immer gesagt, dass sie aufgrund ihrer Arbeit mit radioaktiver Strahlung starb. Aber nur selten wird erwähnt, dass sie da immerhin schon 66 Jahre alt war, also in der durchschnittlichen Lebenserwartung einer Frau dieser Zeit. Die ein erfülltes Leben geführt und nebenbei zwei Nobelpreise gewonnen hat. Stattdessen: Liebesszenen mit Nobelpreisbeilage.

In diesem Punkt lohnt es, Hermann Brochs marxistischen Fundamentalismus auszugraben, auch wenn der heute nur noch wenig Anerkennung in der Kitschtheorie genießt. Nach Broch ist, wer Kitsch herstellt, "nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts- oder Wenigkönner ... er ist kurzerhand ein schlechter Mensch."

Es wäre so viel mehr drin gewesen, und das ist - in diesem Fall - ein schändliches Versäumnis. Vielleicht wollte der Film nicht mehr, aber er hätte mehr wollen sollen.

Marie Curie, P/D/F 2016 - Regie: Marie Noëlle. Buch: Noëlle, Andreas Stoll. Kamera: Michael Englert. Mit Karolina Gruszka, Arieh Worthalter, Charles Berlin, André Wilms. NFP, 100 Minuten.

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