Film über Atatürk:"Schürzenjäger und Größenwahnsinniger"

"Auf dass ihre Hirne nicht korrumpiert werden": Ein Dokumentarfilm erschüttert die Türkei - weil er es wagt, Kemal Atatürks menschliche Seite zu zeigen.

Kai Strittmatter

Das eigentlich Erstaunliche ist nicht, dass über diesen Film gestritten wird. Das Erstaunliche ist, dass über diesen Film überhaupt gesprochen wird. Zumindest für jemanden, der keine türkische Schule durchlaufen hat, wo man Woche für Woche einen Eid auf Atatürk schwört, wo Konterfei und Zitate des "Vater der Türken"(das bedeutet sein Name) noch die Rechenaufgaben der Erstklässler begleiten.

Film über Atatürk: Sein Bild hängt auf jedem Marktplatz, in jeder Beamtenstube - und auch wenn Premierminister Erdogan spricht, ist Atatürk dabei.

Sein Bild hängt auf jedem Marktplatz, in jeder Beamtenstube - und auch wenn Premierminister Erdogan spricht, ist Atatürk dabei.

(Foto: Foto: afp)

Ein Dokumentarfilm über Atatürk also: "Mustafa". Mustafa ist der Name, den Atatürk von seiner Mutter bekam. Ein Film über einen Mann, der in der Türkei, so sieht es die Zeitung Taraf, "behandelt wird wie sonst nur der Führer Nordkoreas in seinem Land". Eine Dokumentation, die nichts Neues erzählt. Die zu 50 Prozent noch immer Führerkult ist, zu 40 Prozent öffentlich-rechtliches Fernsehen auf Valium - in den restlichen zehn Prozent jedoch Anrührendes und Menschliches zeigt. Diese zehn Prozent reichen aus, um viele Türken in Wallung zu bringen. Wenn aber eine Schlaftablette bei jemandem das Blut zum Kochen bringt, dann lohnt mehr noch als der Blick auf die Schlaftablette der Blick auf den Patienten.

Die Türkei. Ein Staat, den es so nur gibt, weil es Atatürk gab. Als Soldat ein genialer Stratege, als Staatengründer ein Visionär. Er hat die Türken gerettet, er hat ihnen aus den Trümmern des osmanischen Reiches eine neue Republik gezimmert, er hat ihnen in all seiner Ungeduld den radikalen Bruch mit der Vergangenheit und die Hinwendung zu Europa über Nacht befohlen: Abschaffung des Kalifats, Verbannung der Religion aus dem öffentlichen Raum, Gleichstellung der Frau, Ablösung der arabischen Schrift durch das lateinische Alphabet.

Die Hutrevolution

Atatürk wollte den Türken an den Schädel - der bei Androhung von Gefängnisstrafe befohlene Austausch von Fez und Turban gegen europäische Hüte war Programm. Zu seinem Erbe gehören aber auch ein autoritärer Einparteienstaat, eine Armee, die sich der Politik vorgeordnet fühlt - und eine Gefolgschaft, die schon bald nach seinem Tod nichts Eiligeres zu tun hatte, als Atatürk zu einem Halbgott zu erheben. Sie schufen sich ihre Ersatzreligion, den Kemalismus, so benannt nach Atatürks zweitem Vornamen Kemal.

Man kann die Reaktionen auf "Mustafa" nicht verstehen ohne das Ausmaß des Kultes um den toten Führer. Seine Büste, sein Porträt, seine Statue zieren jeden Marktplatz, jede Beamtenstube in der Türkei. Seine Hutrevolution ist bis heute gültiges Gesetz, unantastbar wie so vieles andere.

Am Montag jährte sich sein Todestag zum 70. Mal, und wie jedes Jahr stand um 9 Uhr 5 - Atatürks Todesminute - der Verkehr im ganzen Land still, stiegen die Menschen aus ihren Autos, um dem toten Führer schweigend ihre Reverenz zu erweisen.

"Dieser Mann"

Der Politikprofessor Attila Yayla wurde im Januar wegen "Beleidigung Atatürks" zu 15 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt: Er hatte Atatürk "diesen Mann" genannt. In der Region Damal treffen sich jeden Sommer Pilger, um ein besonderes Schauspiel zu erleben: Wie die hinter einem Berg stehende Sonne auf den gegenüberliegenden Hang den Schattenriss Atatürks wirft.

Vor diesem Hintergrund also drehte der TV-Journalist Can Dündar seinen "Mustafa". Dündar ist nicht irgendwer. Er ist bekannt als Atatürk-Verehrer. Sein letzter Atatürk-Film "Blonder Krieger" war Pflichtprogramm für Schulklassen im ganzen Land. Can Dündar ist gern nett zu jedermann, als Rebell war er bislang nicht bekannt.

Ausgerechnet er soll nun ein Werk in die Kinos gebracht haben, das "Atatürk demütigt vor den Augen der Nation und die Armee schwächt", wie der Kommentator Yigit Bulut in der Zeitung Vatan tobt. Die einzige Erklärung: Der Film müsse Teil "einer psychologischen Operation der imperialistischen Mächte" gegen die Türkei sein. Die einzige Rettung: "Schaut ihn nicht an", fleht Bulut. Vor allem: "Erlaubt euren Kindern nicht, den Film zu sehen, auf dass ihre Hirne nicht korrumpiert werden."

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Atatürk unsterblich bleiben muss.

"Schürzenjäger und Größenwahnsinniger"

Was also ist zu sehen? Ein Mann, der sich einsam fühlt. Der Momente des Zweifels hat. Ein Atatürk, der raucht. Drei Schachteln am Tag. Und trinkt. Eine Flasche Raki pro Nacht. Ein Mann, der seine Geliebte wegschickt, die sich daraufhin umbringt. Ein Atatürk, der in einem Brief schreibt: "Ich bin doch auch nur ein Mensch. Ich bin doch kein Heiliger." Alles Dinge, die längst bekannt sind und die in Hunderten Büchern stehen.

Die so aber keinem türkischen Lehrer über die Lippen kommen und bislang in keinem türkischen Film zu sehen waren. Da half es Dündar auch nicht, dass seine Dokumentation natürlich eine Liebeserklärung ist, dass er seine Annäherung an den Menschen Atatürk dick einpackt in altbekannte Heroenlegenden und grandiosen Propagandakitsch. (Dündars Respekt vor Atatürk geht so weit, dass in den nachgespielten Szenen bis kurz vor Schluss nie Kopf und Gesicht des großen Führers zu sehen sind, fast so als gelte auch hier ein heiliges Bilderverbot.)

"Er war nie alleine"

Der Mobilfunkkonzern Turkcell zog schon während der Produktion zuvor zugesagte Sponsorengelder zurück. Atatürk einsam? "Er war nie alleine", protestierte die 75-jährige Ülkü Adatepe, überlebende Ziehtochter Atatürks: "Hinter ihm stand eine liebeserfüllte Nation." Atatürk ein Herzensbrecher? Ein Kolumnist der Hürriyet zeigte sich schockiert ob des Porträts als "skrupelloser, hedonistischer Schürzenjäger und Größenwahnsinniger". Atatürk der Raucher und Trinker? "Geistigen Mord an dem großen Vorbild unserer Jugend", beklagte die türkische Antiraucher-Vereinigung und erstattete Anzeige, allerdings nicht wegen Mordes, sondern wegen des "Gesetzes zur Kontrolle der Tabakprodukte" - "Mustafa" sei die "größte Raucherreklame in der türkischen Geschichte", der durch den Film angestoßene Werteverfall könne zum "Auseinanderbrechen der Türkei" führen. Dabei erwähnt der Film noch nicht einmal die Leberzirrhose, an der Atatürk am 10. November 1938, gerade mal 57-jährig, verstarb.

Oder die blutigen Massaker an aufständischen Kurden. Aber die Hüter der Altäre ertragen nicht einmal Szenen wie jene, in denen Atatürk einem Freund erklärt, seine Rede zur Gründung der Republik sei deshalb so kurz gewesen, "weil ich meine Zähne verloren hatte, da pfiff ich so". Götter pfeifen nun einmal nicht durchs lockere Gebiss.

Kein Sterblicher

Das sei das Problem mit den alten Ideologen, seufzt der Schriftsteller und Taraf-Chefredakteur Ahmet Altan: "Atatürk darf kein Sterblicher sein. Sie wollen einen Übermenschen. Einen Gott. Aber warum? Alle großen Führer waren Menschen. Menschen mit besonderen Talenten. Aber alle hatten sie ihre Schwächen. Und man liebt und respektiert sie trotzdem."

So sehr einen die Debatte an die Tabus erinnert, die so alt sind wie die Republik selbst, so sehr ist sie auch Beleg dafür, wie an ihnen gerüttelt wird. Das erschreckt die harten Kemalisten. Eine Million Menschen haben "Mustafa" schon gesehen, in der Istanbuler Shoppingmall "Istinye Park" läuft er in zwei Kinosälen gleichzeitig.

Ein Kolumnist schrieb dem Film eine Wirkung vergleichbar der Ersatzdroge Methadon zu: Langsam werde "die Nation von ihrer Sucht nach dem alten offiziellen Bild entwöhnt".

Allein fühlen brauchen sich die alten Kemalisten indes noch nicht. Im Vorprogramm zu "Mustafa" läuft ein Spot der Softdrinkfirma Fresa, die ihre Limonaden erstaunlicherweise mit einem Atatürk-Zitat ("Die Zukunft soll man denen überlassen, die an die Republik glauben") anpreist. "Fresa-Brause", erklärt auf Nachfrage die zuständige Werbedame, "ist eine Firma, die die Atatürk-Werte hoch schätzt." Gegen den Spot gibt es bislang keine Proteste.

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