Fiktive Zeitgeschichte:Ein großpolnisches Europa

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Was tun, wenn einem die eigene Geschichte nicht passt? Man dichtet sich eine neue. In Polen verläuft der Weltkrieg in der Popkultur hin und wieder ganz anders, als man dachte.

Ein Gastbeitrag von Adam Krzemiński

Es gibt zwei konträre Arten, die nationalen Geschichten mediengerecht zu präparieren. Die eine lockt in den Erlebnisparks zur Verschmelzung mit dem Vergangenen, "wie es war". So konnte man im Oktober in Leipzig mitten durch die Völkerschlacht von 1813 flanieren, in Warschau dagegen im August am nachgestellten Aufstand von 1944 teilnehmen.

Die andere Art der Trivialkultur ist die Flucht in kontrafaktische Geschichtsträumereien. In England dachte sich Neil Ferguson eine andere Entscheidung Londons im Sommer 1914 und den Fortbestand des Empire aus. In Deutschland erträumt sich Hannes Stein im Roman "Komet" eine friedliche wilhelminisch-habsburgische EU, weil der Erzherzog nach dem ersten Attentatsversuch in Sarajewo seinen Besuch abbricht.

In Polen wiederum wird in der political fiction der Zweite Weltkrieg völlig neu erfunden. In zahlreichen Romanen, Essays und neulich sogar auf der Leinwand. So erscheint Hitler in einem Klamauk 74 Jahre nach der Warschauer Siegesparade der Wehrmacht erneut an der Weichsel. "AmbaSSada" heißt der Film, den man getrost als eine Replik auf den deutschen Slapstick "Hotel Lux" verstehen kann. Beide Filme haben denselben Hintergrund - den Ribbentrop-Molotow-Pakt. Während aber deutsche Filmemacher auf eine Veräppelung Stalins und seiner deutschen Knappen wie Walter Ulbricht aus waren und den eigentlichen Zweck der Moskau-Reise Ribbentrops - die Vernichtung Polens - verschwiegen, stellt Juliusz Machulski (Sexmission, 1983) Hitler ins Zentrum, um die Weltgeschichte auf andere Bahnen zu schieben.

Holocaust-Film "Lauf, Junge, lauf"
:Kind in Zeiten des Krieges

Yoram Fridman floh mit acht Jahren aus dem Warschauer Ghetto und schlug sich bis Kriegsende in den Wäldern durch. Der deutsche Oscar-Preisträger Pepe Danquart erzählt in "Lauf, Junge, lauf" akribisch die Geschichte des Überlebenden. Nun ist der Film in Polen angelaufen - und wird bislang gut aufgenommen.

Von Klaus Brill, Warschau

Ein junges Paar bezieht 2012 ein Penthouse-Apartment in einem Neubau, der an der Stelle der Botschaft des Dritten Reiches in Warschau steht. Nachts hören sie merkwürdige Geräusche. Sie machen sich auf die Suche und geraten mit dem Aufzug mitten in ein aufgeregtes Getue. Unten ist der 23. August 1939, in Moskau wird der Teufelspakt unterschrieben. Nun beginnt im Haus ein Rennen zwischen den Etagen und Epochen. Oben - im Jahr 2012 - erfahren deutsche Diplomaten aus dem polnischen Fernsehen, wie die Geschichte laufen wird. Unten wird Ribbentrop schleunigst darüber unterrichtet. Auf dem Rückflug landet er in Warschau, um die vermeintlichen Hellseher zu sprechen. Ihm folgt dann auch Hitler inkognito.

Und jetzt wird es brenzlig. Der "Führer" wird von den Polen ein wenig malträtiert, und ist bereit, den "Fall Weiß" abzublasen. Die Berliner Kamarilla verfügt aber über einen Doppelgänger in eiserner Maske. Der ist bereit, den Angriff zu starten, bricht sich jedoch das Genick. Den echten Adolf tötet kurz darauf im Botschaftsgebäude eine deutsche Bombe. Führerlos ist der Krieg für das Reich verloren. In der Schlussszene landet das junge Paar wieder im Jahr 2012, jetzt aber nicht in unserem, sondern einem alternativen. Polen steht groß da. Warschau hat keinen sowjetischen Kulturpalast, dafür aber lauter langweilige Wolkenkratzer und viele orthodoxe Juden.

Die Kritik ist gespalten, man mokiert sich, dass dabei keine "Inglourious Basterds" herausgekommen sind, lobt aber die entzaubernde Nonchalance des Films. Dieses Lachen sei wohltuend. Nicht alles in dem Film ist wirklich geschmackvoll, aber im deutschen Millionen-Bestseller "Er ist wieder da" - mit Hitler als Konkurrenten Stefan Raabs - auch nicht.

Umweltfreundlicher Patriotismus

"AmbaSSada" ist ein wenig Selbstbefriedigung, und ein wenig Abschied von einem Trauma. Und das wird im Film auch offen ausgesprochen. Den alten Patriotismus haben uns einige Burschen restlos ausgetrieben, sagt im Film die junge Polin des Jahres 2012. Der neue aber scheint selbstbewusster und umweltfreundlicher zu sein.

Der Film hat mehrere Vorläufer in der polnischen Trivialliteratur der vergangenen Jahrzehnte. Darunter einen opulenten Roman von Maciej Parowski "Der Sturm" (2009), in dem fatales Wetter Anfang September 1939 die deutsche Offensive zum Stoppen bringt, während die Franzosen in Deutschland einmarschieren und Stalin innehält. Im Winter werden die beiden Diktatoren gestürzt, Hitler wird nach St. Helena verbannt, Stalin in Katyn interniert. Und im Frühjahr 1940 findet in Warschau ein Friedenskongress der Intellektuellen statt, an dem Koestler und Jünger, Camus und Ehrenburg, Philby und Orwell teilnehmen. Außerdem Korczak und Kolbe. Die Versöhnung hängt aber von der neuen jungen europäischen Generation ab, vertreten unter anderem von Sophie Scholl. Einen öffentlichen Skandal verursacht dabei eine Cineastengruppe, die in Warschau eine politfiction dreht, in der Polen besiegt und aufgeteilt wird und sein Untergrundstaat die Hekatombe der Opfer nicht verhindern kann. Leni Riefenstahl und Marlene Dietrich geraten dabei in Streit.

Woher kommt dieser ganze Unsinn? Man kann es so sehen: Polen findet immer noch keinen richtigen Halt in dieser Welt. Es hat seine Wisente, seine Masurischen Seen. Sonst aber hat es keine Weltmarken, keinen Papst mehr und inzwischen nur noch einen Nobelpreisträger - Lech Wałęsa. Doch an der Revolution der Solidarność können sich die Einheimischen zwischen Bug und Oder-Neiße kaum aufbauen, denn ihre einstigen Recken sind heillos zerstritten und für die Nachgeborenen sind sie sowieso Schnee von gestern. Auch Tusks "grüne Insel", also der Stolz, dass das Land nach 2008 dem Sturm der Weltfinanzkrise erfolgreich trotzen konnte, ist unter dem Dauerbeschuss der Opposition zusehends verwelkt.

Zwar wurde das ländliche Ostpolen in den vergangenen 25 Jahren fast völlig neu gebaut und mit soliden Straßen versehen. Alte Holzkaten wichen modernen, wenn auch nicht mehr so malerischen Häusern mit passablen Gebrauchtwagen davor. Trotzdem wurmt viele Polen ihre Nationalgeschichte. Politiker benutzen die nationalen Traumata, um parteipolitisches Kapital daraus zu schlagen, und geschichtsfixierte Feuilletonisten drehen und wenden die Nationalhistorie, um sie zumindest moralisch als siegreich in der Niederlage deuten zu können oder um alternative Abläufe für sie zu ersinnen.

Vor einem Jahr überraschte Piotr Zychowicz, Redakteur eines rechtsgerichteten Magazins, die polnische Öffentlichkeit mit der Feststellung, Polen hätte 1939 Hitlers Angebot annehmen und gemeinsam mit dem Dritten Reich gegen die UdSSR ziehen sollen. Nach der Siegesparade in Moskau - schrieb er im "Ribbentrop-Beck-Pakt" - hätte Polen, wie Italien 1943, dann die Front wechseln und sich einen Platz an der Seite der Westmächte sichern müssen.

Gedanklich gehaltreicher ist Ziemowit Szczereks "Siegreiche Rzeczpospolita" (Republik Polen). Alles andere als eine nationale Selbstbefriedigung, eher eine intellektuelle Polemik gegen allzu abhebende Tagträumer. Nicht das abstruse Szenario, wie 1939 der Krieg gewonnen wurde, ist interessant, sondern was danach passiert. Nun gut, meint der Autor. Wie sähen dann Polen, seine Umgebung und Europa aus, wenn die polnischen Träume einmal hätten Wirklichkeit werden könnten?

Polen als regionale Großmacht

Erst einmal vergesst nicht - drückt es der Autor seinen Lesern aufs Auge -, dass dieses Vorkriegspolen schwach, rückständig, autoritär und unappetitlich war. Es war zwar kein faschistisches Land, aber seine Öffentlichkeit verhielt sich arrogant gegenüber den ethnischen Minderheiten. Selbst vor Kurzem noch eine Kolonie Preußens, Russlands und Österreichs, strebte es seine eigenen Kolonien in Madagaskar und Angola an. Viele wollten auch Polen als regionale Großmacht zwischen der Ostsee, dem Schwarzen Meer und der Adria sehen. Es gab sogar Spinner, die von einem slawischen Bodensatz faselten, der bis Hamburg und Halle reichte.

Nun stellt euch vor, das alles hätten die Polen umsetzen können, sagt Szczerek. Wäre dieses "polnische Europa" 2013 glücklicher und ausgeglichener als die reale EU von heute? Dies wäre ja nur ein Gernegroß auf Pump gewesen. Ein zivilisatorischer Großer Sprung erfordert Selbstdisziplin, doch Siegestrunkenheit und imperiale Gier - siehe wilhelminisches Deutschland - schüren Aggressivität und Hochmut.

Widerstandskämpfer Witold Pilecki
:Der Mann, der freiwillig in die Hölle von Auschwitz ging

Der polnische Widerstandskämpfer Witold Pilecki ließ sich absichtlich in Auschwitz internieren. Seine Berichte aus dem KZ sollten die Alliierten aufrütteln. Später kämpfte er offen gegen die Nazis - und wurde schließlich Opfer des stalinistischen Terrors. Nun erscheinen Pileckis Aufzeichnungen aus dem KZ in deutscher Sprache.

Von Knud von Harbou

Szczerek sieht dieses mächtige Polen umgeben von abhängigen, ihm missgünstigen Staaten im Süden und im Osten erschüttert durch die ukrainische und weißrussische Irredenta, die wie die irische sich durch Terrorismus ihre Unabhängigkeit erkämpft. Schließlich kommt diese imaginäre polnische "Großmacht" weder mit ihrer innenpolitischen Balance noch mit ihren regionalen Partnern zurecht. Kurzum: Außenpolitisch erinnert es zunehmend an Milošević' Jugoslawien: alles andere als ein glückliches Polen, eine glückliche Region und ein glückliches Europa. Das polnisch dominierte Intermarium zerfällt, Deutschland vereinigt sich unter den Fittichen der Westmächte, die Union der europäischen Nationen (EUN), bleibt aber bestehen. Und wir alle landen ungefähr dort, wo wir heute tatsächlich sind.

Und was wäre den Polen von dieser imperialen Glorie geblieben? Klotzige Denkmäler siegreicher Feldherren, viel Architektur im Stile Speers und ein "demokratisches Kabarett" wie in Putins Russland oder Lukaschenkos Belarus. Aber: "Mit dem polnischen Wirtschaftsaufschwung würde auch das soziale Bewusstsein der Polen wach und die autoritäre Militärdiktatur wahrscheinlich gestürzt; es bestünde allerdings das Risiko, dass sich der innere Konflikt zu weit entwickelt und der Staat zerfallen könnte." Serbien lässt grüßen.

Will Szczerek etwa sagen, wir leben also doch in der besten von vielen möglichen Welten? Der reißerische Rahmen der "Siegreichen Rzeczpospolita" umschließt alles andere als einen nationalistischen Größenwahn der immerfort Zukurzgekommenen. Es ist vielmehr eine ad absurdum geführte Demontage solcher Träume. Und schließlich eine Ankunft in der Realität.

Parowskis und Machulskis Korrektur der Geschichte des Jahres 1939 und Szczereks nüchterne Demontage des herumgeisternden nationalen Größenwahns sind Indizien dafür, dass auch an der Weichsel das Realitätsprinzip die Oberhand hat und sogar in der Popkultur für nationale Komplexe rationale Heilmittel gefunden werden.

© SZ vom 13.02.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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