Festspiele als Pop-Event:Ein Fest, das ist nie verkehrt

Wo Wagner drauf steht, da muss auch Wagner drin sein: Die Oper wird immer mehr zum Pop-Event, die Aufführung zum Open-Air-Festival.

Joachim Kaiser

Im Juli und August herrscht hierzulande Festspielzeit. Während jener Ferienmonate, die früher eher die spöttische Assoziation des "Sommertheaters" provozierten, finden in München, Bayreuth und Salzburg Aufführungen statt, die mittlerweile zumindest publizistisch wichtiger geworden sind als das, was in der einst als weit "seriöser" geltenden Wintersaison geschieht. Neben den traditionellen Groß-Festivals haben sich Dutzende, Hunderte oft kleinere, angenehm intime, hauptsächlich Solisten-Auftritten, Kammermusikalischem und speziellen Themen gewidmete Musikfeste installiert. Deren Bekanntheit und Rang hängt in vielen Fällen ab von der Attraktivität der Künstler oder Künstlerinnen, die als Begründer oder organisatorische Ratgeber - wenn nicht sogar als "Seele" - der betreffenden Musikereignisse fungieren.

Festspiele als Pop-Event: Gotteslästerung? Sophie von Kessel in Hofmannsthals "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen.

Gotteslästerung? Sophie von Kessel in Hofmannsthals "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen.

(Foto: Foto: dpa)

So inspirierte der große Geiger Gidon Kremer die berühmten Lockenhaus-Konzerte, Martha Argerich die Auftritte ihrer Freunde und Kollegen in Lugano, der Pianist Lars Vogt sein mittlerweile prominentes "Spannungen"-Kammermusik-Festival in Heimbach (Eifel), wo junge Solisten vorgestellt wurden, die mittlerweile als Interpreten obersten Ranges gelten. Des Dirigenten Enoch zu Guttenberg Orchester-und Chor-Veranstaltungen in Herrenchiemsee, der Cellistin Natalia Gutmann erlesene Gedächtnis-Konzerte in Wildbad Kreuth, die zwar noch junge, aber bereits bemerkenswert erfolgreiche Veranstaltung, die der Pianist Rudolf Buchbinder im österreichischen Grafenegg verantwortet: Alle diese Festspielveranstaltungen können offenbar existieren, da die Prominenz der sich dafür engagierenden Künstler sowohl hilfreiche Sponsoren wie auf touristische Belebung hoffende Gemeinden und vor allem das Publikum in Bewegung setzt.

Zweifellos befinden sich gegenwärtig weltbekannte Großfestivals wie Bayreuth, Salzburg und München in einer Art Verkündigungskrise - die aber offensichtlich weder ihre Anziehungskraft, noch die beträchtliche Höhe ihrer Eintrittskartenpreise mindert. Denn der Reiz der Festspielidee ist nach wie vor unerschütterlich. Menschen, die der Faszination von Musik einen Platz in ihrem Leben einräumen, brauchen neben den saueren Wochen des Alltäglichen die frohen Feste des Besonderen, Unalltäglichen. In der deutschen Sprache findet sich kein Wort mit reinerer, verheißungsvollerer, positiverer Aura als eben das Substantiv "Fest". Zur klassischen Symphonik gehört, was man so leicht vergisst, emphatisch der "festliche Ton".

Natürlich macht sich etwas vor, wer die Vergangenheit legendärer Festspielereignisse verklärt. Gemäkelt wurde eigentlich stets über enttäuschende, entstellende, grauenhaft misslungene Festspiel-Aufführungen. Das gehört platterdings zur Sache. Das war 1876, bei der Bayreuth-Eröffnung, höchst schadenfroh der Fall, wie auch später bei den von Strauß/Hofmannsthal inspirierten Salzburger Festspielen, als Karl Kraus dem "Jedermann" förmlich Gotteslästerung vorwarf.

Als nach dem Untergangs-Entsetzen des Zweiten Weltkriegs endlich, endlich wieder die Salzburger Festspiele in Frieden und Freiheit aufleben durften und dort immerhin ein Furtwängler, später ein Karajan unvergessliche Beschwörungen boten, da mokierten junge deutsche Kritiker sich gehässig über "Die schöne Leiche von Vorgestern". So etwas wurde Muster-Aufführungen angetan, die mittlerweile als CD-Dokumente Kultrang besitzen.

Die wohlvertraute "Kulturkrise", die zu allen Zeiten von den Nestoren des Metiers ausgerufen wurde, hat anscheinend heute eine neue Dimension erreicht. In Bayreuth, München oder Salzburg werden exemplarische, dem Willen bedeutsamer Werke dienende Interpretationen neuerdings seltener angestrebt. Sie sind nicht mehr wesentliches Festspielziel. Das ist niemandes "Schuld". Denn die Standards zumal der Opern- und Schauspiel-Regie büßten ihre normative Kraft ein. Verloren ging die kollektive Überzeugung: Was gemeinsam wichtig sei, sei eben darum interessant.

Hofmannsthal hätte wohl kaum damit gerechnet, einmal bei seinen Salzburger Festspielen einem greisen, gelähmten, schwulen Don Juan zu begegnen. Wagner hat sich seine Meistersinger schwerlich in Bayreuth als Meistermaler vorgestellt und hätte sich gewiss auch darüber gewundert, seiner nobel romantischen Lohengrin-Oper in München als Vorwand für ein zeitgenössisches Schauspiel über Aufbau und Zerstörung eines schlichten Einfamilienhauses zu begegnen; gleichwohl hätte er sich gefreut über ein auffallend passioniertes Solistenensemble sowie kompetente Chor-und Orchestermusiker. Leider gilt der Satz des Regisseurs Lars von Trier, der eine Bayreuther Ring-Inszenierung nicht wagte, für die meisten Regisseure nicht mehr: "Ein Paket, wo Wagner darauf steht, da muss auch Wagner drin sein."

Die individuelle, privatisierende Erweiterung des Festspielbetriebs einerseits, andererseits der Versuch, um jeden Preis zu popularisieren, also etwa in Bayreuth Wagners Tondramen unkundigem Publikum und Jugendlichen vereinfacht zugänglich zu machen sowie die "heiligen" Festspielhaus-Darbietungen zeitgleich auf öffentliche Plätze zu übertragen: Diese beiden einander widersprechenden Tendenzen lassen sich kaum logisch in Einklang bringen.

Wenn in kleineren Ortschaften, etwa das Opernfestival Gut Immling, Chiemgau, das Usedomer Musikfestival, oder auch ein Zelt-Musik-Festival in Freiburg stattfinden, dann legen solche Unternehmungen den Schluss nahe, hierzulande bestünde für derlei ein sogar wachsendes, lebhaftes, öffentliches Interesse. Die Großereignisse in Bayreuth, München, Salzburg sind ohnehin chronisch ausverkauft, sodass man als Premieren-Besucher nachgerade erschrickt, wenn man nicht verzweifelt Hoffenden begegnet, die dem Schild "Karte gesucht" magische Kräfte zutrauen.

Wie aber reimt sich besagte öffentliche Anteilnahme mit der anbiedernden Tendenz, aus Veranstaltungen Events zu machen, populäre Open-Air-Aufführungen zu bieten, bei denen nicht nur der Violinklang akustische Beeinträchtigungen erfährt, sondern auch die Hörkonzentration? Offenbar stellt sich da Konzertveranstaltern ein analoges Problem wie für jene Religionsgemeinschaften, die ihre Glaubenswahrheiten beflissen dem Jargon Jugendlicher anpassen, Klampfenmusik als Choralbegleitung für erträglich halten - und dabei die Gefahr in Kauf zu nehmen, um der jungen Leute willen Wesentliches zu versehren.

Fazit: die öffentliche Bereitschaft, Festspiele ernst zu nehmen, existiert, vielleicht ein wenig verunsichert, nach wie vor. Nur: aus traditioneller Kunst und ihrer Vermittlung könnte eine Sekten-Angelegenheit werden, falls nicht auch leidenschaftlich neue, ungewohnte, hilfreiche Vermittlungsmöglichkeiten gefunden würden. Vertrauen in die Kraft und das seelische Gewicht der vielgeliebten Töne kann keineswegs schaden.

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