Festival:Lyrik und Verelendung

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150 Lyriker aus 37 Ländern: Das Poesiefestival in Berlin wird wie immer unter dem Motto "Weltklang" für den ersten Abend eröffnet.

Von TOBIAS LEHMKUHL

Wem der Sinn nach einer vollen Dröhnung Lyrik steht, der wird auf dem Berliner Poesiefestival bestens bedient. 150 Lyriker aus 37 Ländern treten auf. Wer nicht fürchtet, von Relevanz erschlagen zu werden, der braucht bloß das Programmheft durchzublättern. Veranstaltungen zu "Poesie und Widerstand" werden dort angekündigt, zu "Literaturen der Flucht" oder zu "Nähe und Gewalt". Der Lyrik wird allerhand aufgebürdet. Oder anders: Angesichts der bedeutsamen Themenstellungen steht zu befürchten, dass es sich beim zeitgenössischen Gedicht um ein Vehikel gesellschaftspolitischer Auseinandersetzung handelt.

Da wünscht man sich, auch einmal einen Abend zu "Reim, Metrum und Metapher" zu erleben. Aber offenbar darf angesichts der Lage nicht der Verdacht aufkommen, hier gehe es um schöngeistigen Schnickschnack. Schon das Grußwort von Thomas Wohlfahrt im Programmheft, er ist Leiter der Literaturwerkstatt Berlin und mithin des Poesiefestivals, spricht von Krieg, Umweltzerstörung, Verelendung, Vertreibung, Flucht und Fanatismus: "Jeder nationalstaatliche Versuch, nur das Eigene dagegen abschotten zu wollen, belügt die eigene Bevölkerung und produziert neue Unmenschlichkeit. Ein grundlegendes Umdenken ist gefragt!"

Man schaut aber vom "Balkan Balcony" nicht nur auf die eigene Krisenregion, sondern blickt auch in andere gefährdete Länder wie Nigeria oder den Kongo. Selbst Franz Schuberts "Winterreise" wird mit Texten von Heiner Müller angereichert und, wie es heißt, "unters Brennglas der heutigen Zeit" gelegt. Arme "Winterreise!"

Charles Simic räuspert sich lässig wie ein alter College-Professor

. Mal abgesehen davon, dass der vor beinahe einem Vierteljahrhundert verstorbene Heiner Müller inzwischen womöglich ein wenig an Brennglasschärfe verloren hat, ist das bisher Gesagte natürlich ungerecht: Sicher wird in den sogenannten Poesiegesprächen auch über Reim, Metrum und Metapher geredet werden, gewiss ist es wichtig und zuweilen auch erhellend, Lyrik als Ausdruck gesellschaftlicher Zustände in den Blick zu nehmen. Fraglos wird es zahllose Lesungen geben, die ohne politischen Überbau auskommen und einfach nur die Stimmen der Dichter in den Vordergrund stellen.

Viel Musik ist angekündigt, ein Lyrik-Workshop für Kinder und Abende mit flämischer und litauischer Lyrik. Zudem braucht es wohl manches Schlagwort, manches "Konzept", um all die Unterstützer zu gewinnen, die ein solches Festival dringend benötigt - vom Hauptstadtkulturfonds über Pro Helvetia bis zu Ritter Sport und Bad Liebenwerda Mineralquellen.

Schon der Eröffnungsabend, der traditionell unter dem Begriff "Weltklang" firmiert, zeigte, dass gute Lyrik die an sie herangetragenen Erwartungen gut auszuhalten weiß. Da war es gar nicht nötig, das Büchlein mit den Übersetzungen der dargebotenen Gedichte aufzuschlagen. Es genügt, etwa den Vokalreihen einer Ana Blandianas aus Rumänien nachzulauschen oder dem ätherischen Gesang der barfüßigen Neuseeländerin Hinemoana Baker. Auch Charles Simic wollte man ja immer schon einmal gesehen haben, und dann stand der fast Achtzigjährige da wie ein alter College-Professor, die Hände lässig in den Taschen, und räusperte sich so beharrlich, dass es klang wie ein ganz eigenes Lautgedicht.

"Wie Sie sehen, komme ich nicht allein", sagte die hochschwangere Uljana Wolf, als sie die Bühne betrat und ein strukturalistisch inspiriertes Gedicht über die Sprachentwicklung von Kindern vortrug. Und mit einem Mal trat da, "gebubbelt, gebabelt", aus der "konnotation" eine "notunterkunft" hervor. Seiner Zeit entkommt man eben einfach nicht.

© SZ vom 06.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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