Festival Foreign Affairs:Ist das Kunst oder muss man das ernst nehmen?

Christoph Schlingensief, 1998

Christoph Schlingensief im August 1998 bei seinem "Protest-Bad" gegen Helmut Kohls Arbeitsmarktpolitik.

(Foto: dpa)

Der Polizeieinsatz bei einer Berliner Kunstaktion zeigt: Wenn Performance auf Wirklichkeit trifft, kann es gefährlich werden.

Von Peter Laudenbach

Am letzten Wochenende wurde ein Berliner Apple-Store ungewollt Schauplatz einer Kunstaktion - mit weitreichenden Folgen. Johannes Paul Raether entschied sich bei seiner "techno-magischen" Veranstaltung "Protektorama" beim Berliner Festival Foreign Affairs für den "urbanen Raum", um die gängige Renommiervokabel zu zitieren. Die 30 nichts ahnenden Teilnehmer seiner Aktion wurden von einem Audioguide durch die Stadt geführt, um im Apple-Showroom zu landen. Wozu noch ein Bühnenbild bauen, wenn Unternehmen ihre Produkte in so stylischen Tempeln inszenieren? Als wollte er der sakralen Überhöhung der Ware sein kleines Privatritual entgegensetzen, trat Raether als eine Art Techno-Schamane auf. Dabei verteilte er an die Teilnehmer kleine Metallringe. Als diese sich erwärmten, schmolzen sie zu einer silbrigen Flüssigkeit, die ähnlich wie hochgiftiges Quecksilber aussah. Die Folgen waren ein Großeinsatz der Polizei, die einen Anschlag befürchtete, die vorübergehende Schließung des Geschäfts und Verhaftung der Performance-Freunde, aufwendige Untersuchungen der rätselhaften Substanz (sie stellte sich als das harmlose Galium heraus), eine Strafanzeige, die Titelseite der Boulevardzeitung B.Z. und fünf Minuten Ruhm für den Künstler. Eine tragische Ironie liegt darin, dass es Raether um die künstlerische Auseinandersetzung mit Technologie und mitnichten um die Provokation ging. Die ist ihm eher, etwas ungeschickt in der Technologiefolgeabschätzung der verwendeten Materialen, unterlaufen. Der Skandal als Kollateralschaden des Versuchs, Kunst mit der Wirklichkeit, zum Beispiel eines Technologiekonzern, in Reibung zu bringen.

Über den Einzelfall hinaus ist hier bezeichnend, welche Effekte die so erzielte Reibung zwischen Kunst und Wirklichkeit hat: Die kleine Referenzrahmenverschiebung kann Wunder bewirken. Sie sichert noch dem banalsten Vorgang erhöhte Aufmerksamkeit. Wie das beim wertsteigernden Transport von Alltagsgegenständen, sei es Duchamps Toilette oder Tracey Emins mit benutzten Kondomen und Körperflüssigkeiten verziertes Bett, im Kunsttempel Museum funktioniert, ist seit der Erfindung des Readymade ein alter Hut - oder ein signiertes Pissoir - der Kunstgeschichte. Aber der kleine Grenzverkehr garantiert auch in der Gegenrichtung schöne Irritationseffekte.

Weil das so prächtig funktioniert, ist die systematische Entgrenzung der Kunst und das Verwischen der Differenzen zwischen ästhetischem Spiel und sozialer Praxis, Kunstraum und öffentlichem Raum, Bühne und Flüchtlingscafe zur inflationär benutzten Strategie geworden, mit der sich auch billige Einfälle mit der Zuverlässigkeit eines pawlowschen Reflexes gegen die wertvollste Ressource des Kunstbetriebs eintauschen lassen: Aufmerksamkeit.

Anders als eine politische Aktion ist Kunst Selbstzweck - und eben nicht Mittel zum Zweck

Kompliziert wird es bei politischer Aktionskunst. Die Aktivitäten des Zentrums für Politische Schönheit oder die Tribunale, mit denen Milo Rau wahlweise der Schweizer Zeitung Weltwoche, Beteiligten der Wirtschaftskriege im Kongo oder Putins Machtapparat den Prozess machen will, funktionieren im Zwischenbereich von Kunst und Politik auf Kosten der Begriffsschärfe. Auch wenn gelungene Kunst, wie einige Aktionen des Zentrums für Politische Schönheit, gesellschaftliche Konflikte symbolisch verdichtet und zuspitzt, schillern diese Kippfiguren zwischen Kunst und politischer Intervention irritierend. Regelmäßig lautet am Ende die Frage, ob der Krisenbefund (also Völkermord, Flüchtlingsnot oder auch nur, wie etwa zu Beginn dieser Spielzeit bei den Shabby-Shabby-Apartments in der Münchner Innenstadt, der Wohnungsmarkt) zum Zweck der Selbstinszenierung instrumentalisiert wird. Oder ob die Aktion zumindest Aufmerksamkeit auf einen in der Regel auch Nicht-Künstlern nicht ganz unbekannten Missstand lenkt.

Schon die Frage, was Mittel und was Zweck sei, die Kunst oder die politische Bearbeitung eines Konfliktfeldes, ist ein Indiz dafür, dass bei diesen Kurzschlüssen zwischen zwei sehr unterschiedlichen Funktionssystemen beide Blessuren davontragen können: das Reflexionsmedium Kunst - wobei Kunst Selbstzweck ist und eben kein Mittel zum Zweck, auch nicht zu einem guten - und die politische Intervention (deren Akteuren es um politische Ziele gehen sollte, nicht um eine Karriere auf dem Kunst-, Kuratoren- und Intendantenmarkt). Trotz Luhmanns paradoxer Beobachtung, "Dagegensein" bedeute auch "Dabeisein", mutet die Verbindung von radikaler Protestgeste und dem Versuch, damit den eigenen Marktwert zu steigern, befremdlich an - zum Beispiel in den Augen von Leuten, die sich auf eigene Rechnung politisch engagieren und auf die Umwegrentabilität via Kunstbetrieb verzichten.

Natürlich kann die Reibung, die entsteht, wenn ein radikaler Künstler auf nicht weniger radikal eindimensionale Wirklichkeitsabteilungen trifft, sehr erhellend und unterhaltsam sein. Niemandem ist das besser gelungen als Christoph Schlingensief. Seine Kunstpartei "Chance 2000" ("Wähle Dich selbst!") travestierte den Bundestagswahlkampf auf schönste und aberwitzigste Weise. Möglich war das so vielleicht nur in den vergleichsweise gemütlichen Tagen der Berliner Republik, als eine funktionierende Demokratie eine Selbstverständlichkeit und noch kein von Rechtspopulisten schlechtgeredetes Modell war. Schlingensiefs Wiener Aktion "Ausländer raus" zeigte das FPÖ-Österreich wie in einem monströsen Zerrspiegel zur Kenntlichkeit entstellt. Das funktionierte, weil Schlingensief, zumindest bis zur Gründung seines afrikanischen Operndorfes, immer nur und ausschließlich Kunst machen wollte und sich über ihre politischen Wirkungen keine Illusionen (vielleicht auch befreienderweise keine Gedanken) machte. Kunst ist unverantwortlich. Schon deshalb sollte Politik eher ihr Gegenteil als ihre Fortsetzung sein. Auch dass die Ausnahmefigur Schlingensief so viele Nachahmungstäter gefunden hat, dürfte zur Inflationierung der Versuche, Kunst ins vermeintlich echte Leben aufzulösen, beigetragen haben.

Die Orte sozialer Wirklichkeit ästhetisch zu goutieren, ähnelt dem touristischen Blick

Der Grenzverkehr zwischen Kunst und Wirklichkeit ist alles andere als unfallfrei. Dries Verhoeven zum Beispiel chattete für seine Performance "Wanna play" auf der schwulen Dating-Plattform Grindr und veröffentlichte den Schriftverkehr ohne Wissen der Beteiligten. Er stellte das, von allerlei Aktionen begleitet, in einem Glascontainer in Kreuzberg aus. Als aufgebrachte, auf diese Weise zwangsgeoutete Grindr-Nutzer drohten, den Container zu stürmen, brach Verhoeven die so effekthascherische wie unverantwortliche Aktion ab. Auch bei subtileren Formaten verhält sich die Kunst gegenüber der Wirklichkeit parasitär und gelegentlich übergriffig. Das kann elegant geschehen, wie bei einer Daimler-Aktionärsversammlung, die von Rimini Protokoll zur Theaterinszenierung erklärt wurde. Die Zuschauer brauchten als Eintrittskarte nur eine Aktie: Dem Theaterblick wird alles zum Theater. Bei dem von Matthias Lilienthal erfundenen Format "X Wohnungen" werden Privatwohnungen zum Bühnenbild erklärt: die Exkursion in die Parallelwelten der eigenen Stadt als eine Form von Sozio-Theater.

Diese Wahrnehmung der Wirklichkeit ist dem touristischen Blick näher, als den Künstlern recht sein dürfte. Wie Touristen goutieren die Performance-Besucher reale Orte sozialer Praxis vor allem als ästhetischen Reiz und verwandeln sie, zumindest in der eigenen Wahrnehmung, in einen Real-Erlebnispark.

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