Festakt:Analytische Empathie

Beim Festakt in der Frankfurter Paulskirche wird Carolin Emcke von der Laudatorin Seyla Benhabib im Geiste Hannah Arendts gewürdigt.

Von Volker Breidecker

In der Urkunde zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Carolin Emcke heißt es über die 49-jährige Journalistin und Autorin, sie setze sich in ihren Reportagen und Essays "auf sehr persönliche und ungeschützte Weise" den schwierigsten Lebensbedingungen anderer aus: "Mit analytischer Empathie" schildere sie, wie "Gewalt, Hass und Sprachlosigkeit Menschen verändern können". Dagegen setze Emcke auf das "Vermögen aller Beteiligten, zu Verständigung und Austausch zurückzufinden".

Die kritischen Zonen und Konfliktgebiete, in denen sich dies zu beweisen habe, liegen dabei nicht nur in der Ferne äußerer Kriegsgebiete, sondern zugleich auch im Inneren unserer Gesellschaft selbst. Rund 1 000 Ehrengäste hatten sich in der Frankfurter Paulskirche, an der historischen Wiege der deutschen Demokratie, versammelt, darunter Bundespräsident Joachim Gauck, frühere Preisträger wie Liao Yiwu und der Philosoph Jürgen Habermas. Sie fühlten sich stets direkt angesprochen und unterbrachen Emckes Dankesrede mit starkem Applaus, wann immer die Preisträgerin für die "Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen" plädierte, und zwar nicht nur abstrakt, sondern auch im Konkreten, wenn es um Alltagsfragen geht, um die Entscheidung etwa, ob man nun ein Kopftuch trägt oder nicht.

Dass bloße Sympathie für das Andere und Fremde den Flüchtlingen, Heimatlosen und Verfolgten, die heute in wachsender Zahl als "kollektive Opfer von Gewalttaten" an unser Mitgefühl appellieren, nicht den Schutz ihrer Menschenrechte garantieren kann, zeigte die Philosophin Seyla Benhabib. Benhabib, die als sephardische Jüdin in der Türkei geboren wurde und nun in den Vereinigten Staaten politische Philosophie lehrt, machte diese Aporie zum kritischen Punkt ihrer eminent politischen und konzisen Laudatio: "Ein moralischer Nebel", sagte sie, "verschleiert unsere juristischen und ethischen Verpflichtungen gegenüber 'leidenden Fremden'."

Benhabib knüpfte an ihre Lehrerin Hannah Arendt an, deren Geist in Paraphrasen, Anspielungen und selbst im Unausgesprochenen über der Veranstaltung insgesamt lag. In ihrer berühmten Lessingpreis-Rede "Von Menschlichkeit in finsterer Zeit" hatte Arendt zwischen der Sympathie Individuen gegenüber und einer Empathie unterschieden, die in der Lage ist, sich in das Leiden auch von Kollektiven hineinzuversetzen, deren Menschenrechte zu wahren und zu verteidigen.

Genau darum aber geht es heute, wo immer mehr Menschen - und sei es in Lagern und Aufnahmeräumen, die zu ihrem vermeintlichen Schutz errichtet wurden - sich "in einem kafkaesken Zustand" befänden: "Die stehen 'vor dem Gesetz' und sind Gesetzen unterworfen, ohne aber vor ihnen gleich zu sein." Weil ihnen zum Beispiel der Pass fehlt. Die vom Stiftungsrat des Friedenspreises wie von der Laudatorin an Carolin Emcke gerühmte "analytische Empathie", die Opfern dazu verhilft, das ihnen Widerfahrene erzählbar zu machen, und in der Lage ist, die Erzählungen auch auszuhalten, ohne davor in Furcht und Passivität zu versinken, ist das, was nottäte.

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