Fertiges Großbauprojekt:Das wahre Wahrzeichen Hamburgs? Nicht die Elbphilharmonie

Plaza der Elbphilharmonie

Auf der Plaza der Hamburger Elbphilharmonie wird derzeit sehr viel und sehr routiniert fotografiert.

(Foto: dpa)

Wer sich in den ersten Tagen auf die Plaza der Elbphilharmonie wagt, stellt fest: Das perfekte Selfie zählt mehr als die Aussicht. Und wichtiger als die Gesamtkosten ist das Business-Lounge-Gefühl.

Von Tim Neshitov, Hamburg

Die Elbphilharmonie gehört am dritten Tag nach ihrer Eröffnung längst zu Hamburg. Das merkt man daran, dass die Menschen, die auf die Aussichtsplattform krabbeln, sich beim Blick auf den Hafen nicht über den Blick auf den Hafen unterhalten oder einfach in Ehrfrucht erstarren. Was bei 37 Metern über der Elbe eine angemessene Reaktion wäre. Nein, sie loben Antonias Geburtstagskuchen. Mhm, Schoko mit Banane. Oder sie buchstabieren "Tennessee". "Sage ich doch: T-E-N-N-E-S-S-E! Doppel N, Doppel S!"

Die Aussichtsplattform der Elbphilharmonie heißt natürlich nicht Aussichtsplattform, sondern "Die Plaza". Auf der Plaza wird derzeit sehr viel und sehr routiniert fotografiert. Es wird auf jeden Fall mehr fotografiert, als hier buchstabiert, geknutscht, gegähnt, gesimst, gehustet oder nach dem kleinen Niels gerufen wird. Das Merkwürdige ist - und das trägt zum Eindruck bei, die Elbphilharmonie sei schon immer da gewesen: Die Fotografierenden wundern sich, dass noch jemand außer ihnen hier Fotos macht. "Alter, ich will mal den Hafen haben, nicht all die Handys!"

Man will den Hafen nicht sehen, man will ihn haben. Man hat dann den Hafen im Telefon. Es ist selten, dass der Himmel exakt die gleiche Farbe aufweist wie das Wasser. Hamburg, Anfang November, kriegt das gegen sechs Uhr abends hin. Beides dunkelsamtblau, die beste Farbe, um einen schmalen Mond in einem Hafen zur Geltung zu bringen. Aber eindeutig zu dunkel für Selfies, wenn im Hintergrund das Hafentheater mit der senfgelben König-der-Löwen-Beleuchtung erkennbar sein soll.

Die junge, aber einsame Chinesin macht ein Selfie nach dem anderen, blickt jeweils enttäuscht auf das Ergebnis und strahlt jedes Mal aufs Neue auf, bevor ihr kalter Zeigefinger den Bildschirm berührt. Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben Male strahlen. Ihre Nase ist rot. Acht, neun.

Plaza-Rückkehrer rollen einem entgegen. Selfies werden in beide Richtungen geschossen

Um auf die Plaza zu gelangen, nimmt man eine Art lange U-Bahn-Treppe durch einen schneeweißen Tunnel. Plaza-Rückkehrer rollen einem entgegen. Selfies werden in beide Richtungen geschossen. Kurz bevor man am Ziel ist, also im Freien, wird man an einem Laden vorbeigeschleust, der Bier, Ale und Rum ausschenkt. Aus Gläsern, die irgendwie windschief aussehen und "Segelglas" heißen (0,5 l) oder "Tumbler" (4 cl). Essen und Trinken über der Elbe, das gehört nun zur Elbphilharmonie, wie sie selbst zu Hamburg gehört. Atlantik-Ale koste 3 Euro 80 Cent.

Die Plaza umrundet man, wenn man keine Eile hat, in knapp sechs Minuten, links ist immer Hamburg, rechts im Fenster sind essende und trinkende Menschen. Letztere setzen, vermutlich unabsichtlich, Flughafen-Business-Lounge-Gesichter auf. Man genießt hier etwas Besonderes, tut aber so, als handle es sich um eine Selbstverständlichkeit.

Unten am Eingang parkt ein Krankenwagen, man sieht ihn von der Plaza aus. "Papa, warum steht da das? Haha?" Auf dem Dach des Krankenwagens steht: "HH - 2918". "Jemandem ist schlecht, Niels." Das war aber nicht die Frage. Es hieß, man muss Eintrittskarten reservieren, zwei Euro für eine Stunde Plaza, aber nun lassen sie unten einfach jeden durch. Zwei Freundinnen suchen in der Skyline das Rathaus. Zwei Hamburgerinnen. Angelika Engels, Religionslehrerin an einer Rudolf-Steiner-Schule, und Marlies Weymar, Eurythmistin, also Expertin für Eurythmie, eine von Rudolf Steiner entwickelte Bewegungskunst.

Sie freuen sich, dass Hamburg nun ein Wahrzeichen hat, ein wahres. Ist der Michel kein Wahrzeichen? "Nicht mehr."

Sie haben den Bau der Elbphilharmonie natürlich verfolgt, und auch dann nicht an dem Projekt gezweifelt, als die Kosten explodierten, als es hieß, das Wahrzeichen soll knapp 800 Millionen Euro kosten. "Schade nur, dass der Mann hinter der Idee vergessen wurde", sagt Marlies Weymar. "Alexander Gérard, ich habe ein Interview mit ihm gelesen." Der Architekt musste 2004 die Kontrolle an die Stadt Hamburg abgeben.

Hat Bürstadt in Hessen ein Wahrzeichen?

Aus Bürstadt ist das Ehepaar Friedrich angereist. Bürstadt liegt in Südhessen zwischen Biblis und Lampertheim. Jürgen Friedrich arbeitet in der Bahnlogistik, er zählt auf, was sie alles an diesem verlängerten Wochenende geschafft haben: das Musical "Aladdin" gesehen (der ursprüngliche Grund der Anreise). Fischbrötchen an Brücke 10 gegessen. Bis nach Blankenese spaziert, an der Strandperle vorbei, herrlich. In der Alt Helgoländer Fischerstube gespeist. Und nun auch die Elbphilharmonie mitgenommen.

Hat auch Bürstadt ein Wahrzeichen? "Ach", meint Jürgen Friedrich. Wenn dann Mannheim, die nächstgelegene größere Stadt. Da gebe es den Wasserturm und den Luisenpark. Aber die Elbphilharmonie sei natürlich etwas ganz anderes. Wobei: Das wahre Wahrzeichen Hamburgs sei auch sie nicht. Sondern? "Das Fischbrötchen."

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