Familienroman:Auf dem Gipfel der Peinlichkeit

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Seit 1982 veröffentlichte Meg Wolitzer, geboren 1959, elf Romane. "The Position" erschien 2005 in New York. (Foto: Nina Subin)

Der dreizehnjährige Michael entdeckt an einem Sommertag des Jahres 1975 einen Sex-Ratgeber. Der wurde von seinen Eltern verfasst und zeigt sie auch. Von den Folgen erzählt Meg Wolitzer in "Die Stellung".

Von Meike Fessmann

Gar nicht so einfach, wenn die Eltern lockerer sind als die Kinder und ihr Liebesleben in aller Öffentlichkeit zelebrieren. Wer bisher annahm, verklemmte Eltern wären hinderlich für die sexuelle Entwicklung, wird mit diesem Roman eines Besseren belehrt. Hier ist es umgekehrt. Der dreizehnjährige Michael entdeckt an einem Sommertag des Jahres 1975 einen Sex-Ratgeber auf dem obersten Bord des Bücherregals im Wohnzimmer der auf Long Island lebenden Familie. "Pleasuring. Die Reise eines Paares zur Erfüllung" heißt das Buch. Wie Alex Comforts "The Joy of Sex" ist es mit detaillierten Zeichnungen eines Paars illustriert, das sich durch verschiedene Stellungen turnt.

Dass Pubertierende bei den Eltern Sex- oder Ehe-Ratgeber finden, wie das früher einmal hieß (als Hendrik van de Veldes "Die vollkommene Ehe" in deutschen Schlafzimmerschränken schlummerte), ist nichts Besonderes. Was Michael geschieht, allerdings schon. Denn bei dem Paar handelt es sich unverkennbar um seine Eltern. Sie haben nicht nur Modell gestanden, sie haben das Buch auch geschrieben und ausführlich von ihrem Liebesleben erzählt. Und sie haben es mit Bedacht ins Wohnzimmer gestellt, damit ihre Kinder Sex als etwas Natürliches empfinden, das nicht in Schmuddelecken oder im Keller versteckt werden muss. Für Michael ist es trotzdem ein Schock, den er teilen will. Also ruft er seine drei Geschwister zusammen: Holly, die schöne und überhebliche Älteste, sowie Dashiell und Claudia, die mit ihren acht und sechs Jahren erst recht überfordert sind.

Als Paul und Roz Mellow spät nachts von einem ihrer vielen Termine als Promis der sexuellen Befreiung nach Hause kommen, liegen die Kinder schlafend in den Betten. Sie sehen aus wie immer. Doch in ihren Köpfen herrscht Chaos. Der Tag wird zum Dreh- und Angelpunkt des Romans. Immer wieder kehrt Meg Wolitzer zu ihm zurück, während sie die Lebenswege der Familienmitglieder bis ins Jahr 2003 verfolgt. "Pleasuring" soll in einer Neuausgabe erscheinen. Das Tauziehen, das sich die seit Jahren getrennten Eltern deswegen liefern, bildet das Schwungrad des Romans.

2005 im amerikanischen Original erschienen, ist "Die Stellung" ("The Position") ein recht munterer Familienroman mit einem gewissen Hang zum Banalen. Zugleich aber will er mehr sein, nämlich Zeitdiagnose und Gesellschaftsporträt. Zwischen diesen Ansprüchen hin und her gerissen, wirken die Figuren ziemlich schematisch. Die 1960 geborene Holly probiert sämtliche Drogen, taumelt von einer Liebesenttäuschung zur nächsten, verliert ihre Schönheit und ihren Zauber, um sich schließlich in die Ehe mit einem schnöseligen Arzt zu retten und spät noch ein Kind zu bekommen. Sie lebt in Los Angeles und hält die Familie auf Distanz. Dashiell entdeckt mit vierzehn, dass er schwul ist, tritt als junger Mann bei den Republikanern ein und verdient sein Geld als Redenschreiber. Als er lebensgefährlich erkrankt, denken alle, es sei Aids, aber es ist Krebs. Michael leidet unter Depressionen und nimmt Psychopharmaka, die er schließlich absetzt, um seine Lust wiederzugewinnen. Die Jüngste bleibt lange allein, dreht einen Film über ihre alte Schule und lernt einen Arzt kennen, in den sie sich ausgerechnet in ihrem ehemaligen Kinderzimmer verliebt. Er ist der Sohn indisch-pakistanischer Einwanderer, die mittlerweile in ihrem früheren Elternhaus leben.

Vom geradezu sympathischen Sex der Hippie-Ära mit seiner Natürlichkeitsaura spannt Meg Wolitzer den Bogen zur Pornografisierung der Gesellschaft im Internetzeitalter. Doch das Konfliktpotenzial des Themas reizt sie nicht aus. Ist es tatsächlich noch Intimität, was zwischen Paul und Roz zu sehen ist, wenn ein Zeichner sie dabei abbildet und sie wortreich verschiedene Stellungen kommentieren, darunter die selbst erfundene "Elektrisierende Versöhnung", auf die der Titel anspielt? Ist der freie Umgang mit Sexualität, ohne Rücksicht darauf, den eigenen Kindern eine medial verstärkte Urszene zuzumuten, einfach nur unbedacht oder womöglich sogar eine Form von Missbrauch? Die Figurenzeichnung legt das nahe, aber Meg Wolitzer spricht es nicht aus.

Sie huldigt lieber einem stillen Konservativismus, der Bindungskräfte beschwört, aber undeutlich bleibt. Mit ihrem jüngst erschienenen Roman "Die Interessanten" ("The Interestings", 2013) ist der 1959 geborenen Amerikanerin endlich der Schritt zum Gesellschaftsroman geglückt. Ob man ihrem literarischen Ruf einen Gefallen tut, wenn man nun auch ihre früheren Romane ins Deutsche übersetzt, ist ungewiss. Dieser jedenfalls ist schwächer als sein ebenfalls von Werner Löcher-Lawrence übersetzter Vorgänger.

Meg Wolitzer: Die Stellung. Roman. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. DuMont Buchverlag, Köln 2015. 367 Seiten, 19,99 Euro.

© SZ vom 24.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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