Fachliteratur Oper:Geld, Glanz und Gesang

Michael Walters Sozialgeschichte der Oper ermöglicht einen gut fundierten, umfangreichen Einblick in die Kunstform.

Von Jens Malte Fischer

Die Kunstform Oper vermittelt in unseren Tagen ein glamouröses Bild. Es scheint, dass die Oper, sicherlich die komplizierteste und auch in der Produktion teuerste Form der darstellenden Künste, die der Mensch ersonnen hat, auf einem Gipfelpunkt ihrer Popularität ist. Neueste Statistiken bieten allerdings Grund zur Skepsis: Die Zahl der Opernbesucher geht weltweit zurück, auch bei uns, während die Zahl der Konzertbesucher steigt, ein Phänomen, das man so vor dreißig, vierzig Jahren nicht vorausgesehen hat.

Nach einem alten Kalauer ist das Theater ein Irrenhaus und die Oper darin die Abteilung für Unheilbare. "Die Oper ist ein Irrenhaus", so betitelte der Grazer Musikhistoriker Michael Walter bereits vor zwanzig Jahren ein Buch zur Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert. Nun hat er ein neues Buch vorgelegt, in dem er die Geschichte der Institution Oper beschreibt und dies nicht nur für das 19. Jahrhundert. Walter ist unbestritten im deutschsprachigen Raum der beste Sachkenner. Opernführer und Operngeschichten gibt es zuhauf, sozialgeschichtliche Untersuchungen der Oper sind sehr viel seltener und haben auch im angloamerikanischen Raum bisher mehr Interesse geweckt als bei uns, wie ein Blick in das Literaturverzeichnis des neuen Buches zeigt. Walter schränkt sein Thema kaum geografisch ein, auch wenn natürlich berücksichtigt ist, dass die Oper eine im Kern europäische Kunstform ist. Was den Zeitraum betrifft, bescheidet er sich mit der zentralen Epoche der Oper vom 18. Jahrhundert bis zur Zeit zwischen den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, weil, wie er mit Recht sagt, in dieser Zeit die Entwicklung der Oper zu einem gewissen Abschluss gekommen ist und sich seither wesentliche Grundbedingungen nicht mehr wirklich geändert haben.

Die Rolle der Komponisten in der Institution Oper wird weithin überschätzt

Da Walter ein ausgeprägtes Interesse an Wirtschaftsgeschichte hat (und da Oper besonders teuer ist, sind auch wirtschaftliche Rahmenbedingungen besonders wichtig), erfahren wir zunächst viel Interessantes über Währungen, über Wechselgeschäfte, über Kreditbriefe, über grenzüberschreitende Geldprobleme in der Erstellung von Opernereignissen. Auch über das Reisen von ganzen Operngesellschaften, wie es vor allem im 19. Jahrhundert gang und gäbe war, werden wir gut informiert. Walter behandelt die Unternehmeroper als kommerzielle Realisierungsform, wie sie vor allen Dingen das Impresario-System in Italien repräsentiert, aber auch sponsorengestützte Unternehmungen wie die New Yorker Metropolitan Opera.

Auf der anderen Seite steht die primär vom Herrscher oder später vom Staat finanzierte europäische Hof- und Staatsoper, die Walter in zwei glänzenden Kapiteln über die Pariser Opéra und die deutsche Hofoper darstellt. Genauso sattelfest wie in Wirtschaftsfragen ist der Autor auch in Rechtsproblemen. Da es zwischen der gewissermaßen naturgegebenen Unsolidität von Opernproduzenten und Operninterpreten einerseits und den Rechtsvorschriften der einzelnen Länder andererseits von Anfang an gewisse Friktionen gab, ist der Abschnitt über die Rechtsfragen der Institution Oper, der mit vielen Anekdoten gewürzt ist, für den normalen Opernbesucher wahrscheinlich besonders neuigkeitenlastig. Der Abschnitt über die Autoren, also die Komponisten und Librettisten der Oper beginnt mit dem lapidaren Satz: "Die Rolle des Komponisten in der Institution Oper wird überschätzt. Eine Opernaufführung ohne Sänger ist nicht möglich. Eine Opernaufführung ohne Komponist ist nicht nur möglich, sondern heute der Normalfall." Walter zielt hier auf die immer musealer werdende Spielplangestaltung ab und die abnehmende Zahl von Opernuraufführungen. Die prinzipiell hoch erfreuliche Tendenz der Opernspielpläne, neben den bis zu Ermüdungserscheinungen jedes Jahr weltweit gespielten erfolgreichsten Opern auch vergessene oder halbvergessene Werke wieder ins Bewusstsein zu rufen, ist etwas ganz anderes.

Entsprechend ist auch das Kapitel über die Sänger umfang- und ertragreich. Walter operiert hier mit dem Begriff Pierre Bourdieus vom "symbolischen Kapital". Auch heute werden keineswegs immer der für die jeweilige Rolle geeignetste Sänger oder die geeignetste Sängerin engagiert, sondern die Künstler mit dem größten symbolischen Kapital, was mit der Eignung zusammentreffen kann, aber durchaus nicht zusammentreffen muss.

Auch hier wieder Finanzen: Es dürfte für viele Operninteressierte dann doch überraschend sein, dass Anna Netrebko, wie vor einigen Jahren unwidersprochen gemeldet wurde, in einem Jahr etwa drei Millionen Euro verdient hat (wobei wahrscheinlich Werbeeinnahmen miteingerechnet wurden), während der an einem deutschen Stadttheater mittlerer Größe fest engagierte Sänger auf ein Durchschnittseinkommen von 36 000 Euro im Jahr sich einstellen muss. Die viel zitierte Schere zwischen Arm und Reich ist auch in dieser Beziehung schon weit auseinandergegangen.

Beim kurzen Abschnitt über Agenten wird man wohl ein wenig bedauern, dass sich Michael Walter auf knappe Ausblicke ins Jetzt und Hier der Oper beschränkt hat. Man hätte gerne von einem solchen eminenten Kenner der Materie etwas über die aktuelle und in den einschlägigen Kreisen weidlich bejammerte Macht einiger weniger, global operierender Agenturen erfahren, die nicht nur die weltberühmte Sängerin oder den weltberühmten Sänger an die großen Häuser bringen, sondern als Beifang auch einen Dirigenten, der mit den entsprechenden Sängern innig verbunden ist, oder einen Gesangspartner für die berühmte Sopranistin, der mit dieser privat innig verbunden ist, wenn er auch nicht auf dem gleichen Niveau zu singen versteht.

Aber das ist schon das einzige Bedauern gegenüber einem in der Fülle der Belege, der Kenntnis der Fachliteratur und der Weite des Blicks konkurrenzlosen Buch. Wer sich für die unerschöpflich faszinierende Kunstform Oper über die Lektüre von Inhaltsangaben hinaus interessiert, der wird hier reichhaltig versorgt. Nicht nur, weil Michael Walters neue Geschichte der Institution Oper kaum Konkurrenz hat, schon gar nicht in deutscher Sprache, wird man sein Buch mit dem eigentlich abgenutzten Begriff des Standardwerks versehen können.

Michael Walter: Oper. Geschichte einer Institution. J. B. Metzler Verlag. Stuttgart 2016. 470 Seiten, 49,95 Euro.

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