Staatsakt für Helmut Kohl:Wird Europa aus der Totenfeier für Kohl neu entstehen?

Versöhnungsmesse: Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der französische Präsident Charles de Gaulle (rechts) 1962 in der Kathedrale von Reims.

Versöhnungsmesse: Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der französische Präsident Charles de Gaulle (rechts) 1962 in der Kathedrale von Reims.

(Foto: AFP)

Ein europäischer Staatsakt für Helmut Kohl wäre eine protokollarische Revolution. Und eine Chance für die EU, aus einem Symbol neue Kraft zu schöpfen.

Von Gustav Seibt

Eine Gedenkfeier im Europäischen Parlament in Straßburg, eine Fahrt zu Schiff mit dem Sarg den Rhein hinab nach Speyer, wo im Dom eine Totenmesse stattfinden soll: Die Umrisse des europäischen Staatsakts für Helmut Kohl, über die derzeit diskutiert wird, wirken erhaben, einleuchtend und erstaunlich zugleich.

Die Hauptorte der Handlungen liegen in zwei Ländern, obwohl der Tote ein deutscher Bundeskanzler war. Allerdings war er auch europäischer Ehrenbürger, eine Auszeichnung, die in sehr seltenen Fällen vom Europäischen Rat verliehen wird, also von den Regierungschefs der in der Europäischen Union verbundenen Länder.

Neben Helmut Kohl erhielten nur Jean Monnet und Jacques Delors diese Auszeichnung für Verdienste um die Union.

Bei dem Staatsakt, der nun geplant wird, soll die Europäische Kommission federführend sein. Sie bildet den bisher erreichten Ansatz zu einer europäischen Regierung, während der Rat etwa dem entspricht, was in der Bundesrepublik der Bundesrat ist.

Nur dass in Europa die Machtverhältnisse völlig anders sind: Am Ende entscheidet der Rat mehr als die Kommission. Denn, trotz des direkt gewählten Europäischen Parlaments und trotz der Kommission: Europa, die Europäische Union, ist kein Staat, die Kommission keine echte Regierung. Dennoch plant sie jetzt einen "Staatsakt". Das ist das Erstaunliche.

Das Heilige Römische Reich war ein Ensemble von Zeichen. Die Formeln waren die Sache selbst

In Deutschland erlässt der Bundespräsident Staatsakte - es handelt sich durchgehend um Begräbnisse und Trauerfeiern -, wobei er sich mit den anderen Verfassungsorganen abstimmt. Es ist nicht vorstellbar, dass eine solche allerhöchste Veranstaltung ohne das Einverständnis der Bundesregierung stattfindet. Wir sind in der dünnen Luft, wo der Staat zeremoniell, symbolisch und sichtbar in Erscheinung tritt.

Im zeremoniellen Sichtbarwerden beerbt der moderne Staat seine Vorläufer, die noch nicht wie er Anstaltsstaaten mit geschriebenen Verfassungen, mit Gesetzen, Behörden und Gerichten waren. Die Vorläufer des modernen Staats konstituierten sich erst einmal in Riten und Symbolen. Alles andere kam später.

Die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger hat in einem ebenso farbigen wie systematischen Buch "Des Kaisers alte Kleider" das Heilige Römische Reich deutscher Nation als Ritualverband analysiert, als Ensemble von Zeichen, Abläufen, Rangordnungen bis zu Kleidungsstücken und Herrschaftszeichen - hier, so ihre These, war das "Reich" überhaupt nur vorhanden in der Sichtbarkeit seiner Abläufe bei Krönungen und Reichstagen. Man missverstehe es also, wenn man es, wie seit Hegel üblich, als schwachen Staat mit leerem Formelkram kritisiere. Die Formeln waren nicht leer. Sie waren die Sache selbst.

Beim Papst ist die Trauerfeier wichtiger als die Krönung

Solche Zeremonien kommen aus monarchischen Verhältnissen, in denen Herrschaftsübergänge abgesichert und unzweideutig sichtbar gemacht werden müssen. Der König ist tot, es lebe der König - diese kurze Formel vollzieht sich in zwei langwierigen Abläufen, der Bestattung des gestorbenen Herrschers und der Krönung des neuen Königs.

Wenn es Lücken dazwischen gibt, also vor allem in Wahlmonarchien, sind die Krönungen meist etwas wichtiger - eine gute, unumstrittene Krönung hatte eine enorme, Herrschaft stabilisierende Wirkung.

Nur beim Papst ist das anders geworden, dem christlichen Demutsgebot der Kirche folgend. Die Trauerfeiern für Päpste sind heute globale Akte mit Milliarden Fernsehzuschauern. Die Wahl des Papstes findet buchstäblich hinter verschlossenen Türen statt, auf die einst übliche Krönung wird seit Johannes Paul I. verzichtet.

Der heutige Papst sagte erst einmal "buona sera", guten Abend, zur Menge auf dem Petersplatz in Rom. Die Wirkung solcher Schlichtheit verdankt sich aber dem rituellen Jahrtausendgewicht darum herum.

Die Krönungsriten der europäischen Monarchien haben sich über Jahrhunderte weiterentwickelt, immer wieder waren sie Gegenstand detaillierter Verhandlungen. Es gibt dazu eigene historische Forschungszweige. Als der englische König Georg VI. im Jahr 1937 gekrönt wurde, lud man als einzigen deutschen Zivilisten den Mittelalterforscher Percy Ernst Schramm ein, der die historische Disziplin der Krönungsforschung begründet hatte.

Republiken erlaubten sich Pathos eher bei Leichenbegängnissen

Die Kathedrale in Reims wird als "Sanktuarium Frankreichs" bezeichnet, weil dort die Krönungen und Salbungen der französischen Könige stattfanden. Das heilige Öl sollte aus dem 6. Jahrhundert stammen.

Republiken erlauben sich Feierlichkeit und Pathos traditionell eher bei Leichenbegängnissen als bei Regierungsübernahmen. Der im Krieg gefallene Held, der verdiente Staatsmann, der verstorbene, gar ermordete Vorkämpfer für Freiheit und Vaterland sind seit der Französischen Revolution immer wieder Mittelpunkte großer Feiern geworden.

Die popkulturelle Begleitung des Todes von Prinzessin Diana sprengte jeden Ritus

Die Weimarer Republik, die wenig Gelegenheit zu zeremonieller Selbstdarstellung hatte, nutzte die Totenfeiern für den 1922 ermordeten Außenminister Walther Rathenau und den 1929 verstorbenen Kanzler und Außenminister Gustav Stresemann für beeindruckende republikanische Staatsakte.

Republikanisch mehr als monarchisch war 1878 die Überführung des ersten Königs von Italien ins Pantheon in Rom. Italien war als Staat damals erst 17 Jahre alt - Riten gab es nicht, und Viktor Emanuel II. war im Unfrieden mit der Kirche gestorben. Man hätte ihn auch in Turin, wo seine Dynastie zu Hause war, beerdigen können. Aber es musste Rom sein, es wurde eine Kirche, die zuvor ein heidnischer Tempel gewesen war, auch wenn es nur der Ortsgeistliche war, der für minimale kirchliche Verabschiedung sorgte.

Das junge Land, das eine geschriebene Verfassung hatte, begann sich zeremoniell erst zu sortieren. Alle atmeten durch, als der riskante Staatsakt über die Bühne gegangen war.

Krönungen, Begräbnisse und Fürstenhochzeiten sind heute Medienereignisse, und sie vermischen sich unversehens mit dem Starkult und seiner Rührseligkeit. Als Prinzessin Diana nach ihrem tödlichen Unfall beerdigt wurde, musste die britische Monarchie sich auf erhebliche protokollarische Umwälzungen einlassen - bis zur Änderung der Fahnenordnung -, um der öffentlichen Trauer gerecht zu werden. Die popkulturelle Begleitung sprengte dann jeden Ritus.

In Speyer wollte Kohl Thatcher überzeugen, dass er Europäer ist. Darauf sie: "Er ist so deutsch."

Jeder einzelne dieser Staatsakte ist etwas anders, und in jeder Variation prägt sich ein aktuelles Selbstverständnis aus. Konrad Adenauer wurde mit einem Pontifikalrequiem im Kölner Dom verabschiedet, danach wurde der Sarg auf dem Rhein zur Beerdigung nach Rhöndorf verschifft. Daran knüpfen die heutigen Pläne zu Kohls Verabschiedung unübersehbar an.

Deren symbolische Resonanzmöglichkeiten sind reich: Straßburg ist nicht nur Sitz des Europäischen Parlaments, sondern auch der zwischen Deutschen und Franzosen jahrhundertelang am meisten umstrittene Ort.

Speyer und sein Dom liegen nicht nur in der Heimat Helmut Kohls, hier ruhen auch zwei deutsche Kaiser des Mittelalters, Konrad II. und Heinrich V., außerdem mehrere deutsche Könige. Hier wollte, in einer zuletzt viel erzählten Szene, Helmut Kohl seine englische Kollegin Margaret Thatcher davon überzeugen, dass er mehr Europäer als Deutscher sei - was diese mit dem Seufzer "er ist so deutsch" quittierte.

Deutsch-französische Gemeinsamkeiten

Wer nach Vorläufern für europäische Staatsakte sucht, mag sie in den Verleihungen des Aachener Karlspreises erkennen - benannt nach dem ersten nachantiken Kaiser, der zu Deutschland und Frankreich gleichermaßen gehört.

Man kann aber auch an die Versöhnungsmesse denken, die Charles de Gaulle und Konrad Adenauer am 8. Juli 1962 in der Kathedrale von Reims feierten, dem von Deutschen im Ersten Weltkrieg bombardierten Heiligtum Frankreichs. Es war der vielleicht beeindruckendste Moment der französisch-deutschen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Alle diese Vorläufer und Assoziationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein Staatsakt für Helmut Kohl eine protokollarische Revolution sein wird, ein zeremonieller Gründungsakt. Wird Europa aus einer republikanisch-kirchlichen Totenfeier neu erstehen? Die Nachfolger von Professor Percy Ernst Schramm haben durchaus Grund, aufmerksam mitzuschreiben.

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